Auftakt zur Brexit-Schicksalsnacht D-Day für May

Brexit: Tag der Entscheidung für Theresa May Quelle: AP

In 73 Tagen steigt Großbritannien nach 45 Jahren Mitgliedschaft offiziell aus der EU aus. Nur wie? Und was kommt danach? Dienstagabend haben die Parlamentarier das Wort und werden die Weichen für die Zukunft ihres Landes stellen. Vier Szenarien für die Konsequenzen aus dem Votum.

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Die Devisen- und Anleihehändler in den Handelsräumen in der Londoner City und im Finanzdistrikt Canary Wharf bereiten sich auf einen langen Abend vor, vielleicht sogar auf eine halbdurchwachte Nacht bis Mittwoch in den frühen Morgenstunden. Pizza, Kaffee und Cola dürften bereitstehen. Denn am Dienstagabend, ab 20.00 Uhr deutscher Zeit, wird es – mehr als zwei Jahre nach dem britischen EU-Referendum – ernst.

Nachdem Premierministerin Theresa May mit einem letzten eindringlichen Appell um Unterstützung für ihr EU-Scheidungsabkommen geworben hat, werden die 650 Abgeordneten im britischen Unterhaus nun darüber abstimmen. Generell zweifelt kaum jemand daran, dass Mays Brexit-Vertrag durchfallen wird. Schließlich hatte May das eigentlich für Dezember geplante Votum kurz vor Weihnachten abgesagt, um eine vernichtende Niederlage zu vermeiden.

In britischen Medien wird daher bereits über bis zu 200 Gegenstimmen spekuliert. Das wäre eine Niederlage historischen Ausmaßes: Zuletzt hatte 1924 eine Labour-Regierung in dieser Größenordnung verloren. Der „Daily Telegraph“ erwartet in diesem Fall den Rücktritt der Premierministerin. Nachdem sie aber vor Weihnachten einen innerparteilichen Putsch abwehrte, halten andere Beobachter dies für wenig wahrscheinlich. Geplant ist, dass May sich direkt nach der Abstimmung noch einmal mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit wendet. Sie hatte sich bisher strikt geweigert, sich zu äußern, wie sie weiter verfahren will.

Hinter den Kulissen bereiten sich sowohl die Pro-Europäer als auch die Brexitiers, die Regierung und die oppositionelle Labour-Partei auf die verschiedenen Szenarien nach der Abstimmung vor. Denn die Zeit drängt, in zweieinhalb Monaten verlässt Großbritannien die EU. Die Sorge wächst, dass es zum Chaos kommt. Drei Tage nach der Abstimmung, also bis spätestens nächsten Montag, muss May dem Parlament im Falle einer Niederlage ihren Alternativplan vorlegen. Folgende Optionen sind im Gespräch:

Plan A - Zustimmung zum Scheidungsvertrag: Einige Rebellen hatten sich in den letzten Tagen doch noch umstimmen lassen. So gilt es zwar als äußerst unwahrscheinlich, aber nicht als völlig ausgeschlossen, dass May wider Erwarten doch noch eine Mehrheit für ihren Ausstiegsvertrag mit der EU bekommt.

Die Premierministerin hatte die Hardliner wiederholt gewarnt, ohne Zustimmung zu ihrem Ausstiegsvertrag könnte der Brexit platzen, der Ausstieg also nicht stattfinden. Vielleicht wird diese Drohung dem einen oder anderen Euroskeptiker zu denken gegeben haben. In einem Briefwechsel mit EU-Kommissionspräsident Juncker und Ratspräsident Donald Tusk am Montag hatten sich sowohl die EU als auch May außerdem darum bemüht, die großen Bedenken vieler Parlamentarier gegen den Notfallplan für die irische Grenze zu entkräften. Beide Seiten versicherten dabei, sie wollten so rasch wie möglich eine Einigung über die künftigen Beziehungen erzielen, damit die umstrittene Notfalllösung für Nordirland, der sogenannte Backstop, nicht aktiviert werden muss. Ob diese rechtlich nicht bindenden Zusicherungen aber genügen werden, um die Skeptiker umzustimmen? Die DUP, von der Mays Minderheitsregierung abhängt, hat jedenfalls trotzdem angekündigt, gegen das Abkommen zu stimmen.

Eine Zustimmung zum Scheidungsvertrag würde jedenfalls die Wirtschaft freuen: denn in der dort vorgesehenen 21-monatigen Übergangsphase bliebe alles beim Alten: der Binnenmarkt wäre weiter frei zugänglich, es gäbe dann auch keine Zoll- und Grenzkontrollen und die Arbeitnehmerfreizügigkeit bliebe erhalten. Damit wäre ein ungeordneter, harter Brexit vom Tisch. Für viele Unternehmen käme das trotzdem zu spät: sie haben schon damit begonnen, ihre Notfallpläne umzusetzen, zusätzliche Lagerkapazitäten aufzubauen und ihre Lieferketten zu stärken, indem sie Komponenten notfalls über Luftfracht oder alternative Häfen einführen wollen. Auch bei den Banken und Fondsgesellschaften sind die Vorbereitungen schon weit fortgeschritten.

Brexit-Abstimmung: Jede Stimme zählt

Plan B - Knappe Niederlage: Sollte sich Mays Niederlage in Grenzen halten und die Zahl der Rebellen im zweistelligen Bereich bleiben, so dürfte die Premierministerin die EU sofort um Nachbesserungen bitten und ihren Scheidungsvertrag mit kosmetischen Änderungen später erneut zur Abstimmung stellen. Die EU selbst hatte dergleichen bisher stets abgelehnt und dürfte ihre Haltung davon abhängig machen, wie hoch die Niederlage der Premierministerin bei der ersten Abstimmung ausfällt.

Da die Uhr unerbittlich tickt und der offizielle Austrittstermin am 29. März immer näher rückt, hofft May, dass der Druck auf die Abgeordneten, einen ungeordneten No-Deal-Brexit zu vermeiden, die Rebellen letztlich zum Einlenken bewegen dürfte. Schließlich machen – zum Teil befeuert von den PR-Experten der Regierung – unentwegt Hiobsgeschichten die Runde: da ist von Hamsterkäufen der verunsicherten Briten die Rede, die Klopapier, Konserven und Baked Beans horten und von kilometerlangen Lkw-Staus, die drohen, falls schon in wenigen Wochen der No-Deal-Brexit mit neuen Zollkontrollen kommen sollte.

Die Regierung selbst will Soldaten einsetzen, um die Lebensmittelversorgung sicherzustellen und hat einer dubiosen  Fährgesellschaft namens „Seaborne Freight“ einen Millionenauftrag erteilt. Sie soll die Häfen von Portsmouth und Ramsgate ansteuern, um das Nadelöhr Dover zu entlasten. All diese Horrorstorys dürften – so hofft May – die Briten veranlassen, ihre Abgeordneten unter Druck zu setzen, damit sie irgendwann doch noch für das Scheidungspapier der Regierung stimmen.

Plan C - Deutliches Scheitern: Sollte der Ausstiegsvertrag heute Abend mit mehr als 100 Gegenstimmen abgelehnt werden oder im Verlauf späterer Versuche im britischen Parlament endgültig scheitern, dann wollen die Parlamentarier selbst das Heft in die Hand nehmen, um einen No-Deal-Brexit zu verhindern. Fest steht, dass eine überparteiliche Mehrheit der Abgeordneten einen ungeordneten harten Ausstieg aus der EU, der das Land ins Chaos stürzen könnte, auf jeden Fall verhindern will.

Kurz vor der Abstimmung kursierten in London verschiedene Gerüchte darüber, wie dieses Ziel erreicht werden könnte. Sollte klar sein, dass Mays Scheidungsentwurf chancenlos ist, so dürfte das Parlament May eine drei- bis sechswöchige Frist setzen, um mit einem ganz neuen Plan ins Parlament zurückzukehren, hieß es etwa am Wochenende.

Denkbar wäre auch, dass die Abgeordneten selbst versuchen könnten, einen Alternativplan für einen weichen Brexit zu erarbeiten. Federführend wären dabei die Vorsitzenden der wichtigsten parlamentarischen Ausschüsse, die in einer parteiübergreifenden Allianz zu einer Rettung Großbritanniens vor einem No-Deal-Szenario kollaborieren würden. Nicht auszuschließen, dass May dann gezwungen würde, eine dauerhafte Mitgliedschaft Großbritanniens in der Zollunion und/oder im Binnenmarkt zu akzeptieren – ein Norwegen-Plus-Modell wird bereits diskutiert. Oder dass sie sich zur Abhaltung eines zweiten Referendums verpflichtete – beides hatte die Premierministerin bisher strikt abgelehnt. In beiden Fällen müsste May dann in Brüssel um Aufschub des Brexit-Stichtags und eine Verlängerung des Artikel-50-Prozesses bitten. Dafür bräuchte sie aber einen guten Grund.

Die letzte Option - Misstrauensvotum: Labour-Chef Jeremy Corbyn will im Falle einer Niederlage Mays am Dienstagabend rasch ein Misstrauensvotum gegen die Regierung einbringen, um auf diese Weise Neuwahlen zu erzwingen. Unklar war zunächst, ob Corbyn das Misstrauensvotum bereits direkt nach der Abstimmung beantragen würde. Da die Tory-Rebellen und die nordirische Protestantenpartei DUP sich in diesem Fall geschlossen hinter May stellen dürften, gelten Corbyns Chancen als äußerst schlecht. 

Sollte der Oppositionschef wider Erwarten Erfolg haben und sich mit seinem Misstrauensvotum durchsetzen hätte er 14 Tage Zeit um eine Regierung zu bilden, wenn ihm die Königin dazu einen Auftrag erteilen sollte. Gelingt ihm das nicht, so wären sechs Wochen später Neuwahlen fällig.

Auch Neuwahlen würden daher eine Verschiebung des Ausstritts erfordern, da es unmöglich wäre bis 29. März, den Brexit-Prozess abzuschließen und Neuwahlen abzuhalten. Der „Observer“ berichtete unter Berufung auf Brüsseler Quellen, dass dort ein EU-Ausstieg am 29. März mittlerweile wegen der starken Vorbehalte des britischen Parlaments für unwahrscheinlich gehalten und ein entsprechender Antrag für eine Verzögerung erwartet wird. Allerdings gibt es angesichts der im Frühsommer anstehenden Wahlen zum Europaparlament wenig Spielraum für eine Verlängerung.

Corbyns Haltung zu einem zweiten Referendum ist ambivalent. In der Vergangenheit sprach er sich sogar immer wieder gegen ein zweites Referendum aus, das von einer parteiübergreifenden Gruppe von Abgeordneten befürwortet wird. Vor allem die jüngeren Labour-Mitglieder und -Wähler sind enttäuscht, dass Corbyn bisher nicht für eine Rücknahme des Brexit oder für ein zweites Referendum wirbt. Eine ganze Reihe seiner Parteigenossen werben offen dafür. Es steht aber zu vermuten, dass Corbyn insgeheim selbst ein Brexit-Anhänger ist. In der Wirtschaft und vor allem in der Finanzbranche fürchtet man einen Labour-Sieg fast noch mehr als einen harten Brexit. Für die Unternehmen böte ein zweites Referendum die Chance für einen Verbleib in der EU, was eine gute Nachricht wäre. Anderseits haben die Unternehmen die anhaltende Ungewissheit gründlich satt.

Eines steht auf jeden Fall fest: die Fraktionschefs aller Parteien werden sehr genau darauf achten, dass ihre Abgeordneten am Dienstagabend geschlossen erscheinen. Jede Stimme zählt. Eine Labour-Parlamentarierin wollte sich deshalb sogar entschließen, ihren für Dienstag geplanten Kaiserschnitt zu verschieben. Es wird erwartet, dass sie ihre Stimme im Rollstuhl abgibt.

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