Auch Russland kann auf neue Unterstützung hoffen. Offenbar erwägt China, Moskau mehr Hilfe zukommen zu lassen. Es kursieren Gerüchte, dass dies auch Waffen umfassen könnte. Was hofft Peking damit zu erreichen?
Ich spekuliere jetzt, ich habe keine Insiderinformationen. Aber vielleicht ist dies eine Wiederholung dessen, was vor einem Jahr geschah, als wir mit harten Geheimdienstinformationen an die Öffentlichkeit gingen, um eine Gefahr zu entlarven und abzuschwächen. Ich weiß nicht, ob das hier der Fall ist. Es könnte auch sein, dass die Chinesen versuchen, einen Mittelweg zu finden. Sie akzeptieren die russische Erklärung, der Westen habe Russland durch die Nato-Erweiterung und die Raketenabwehr und ähnliche Dinge provoziert – einerseits. Andererseits treten sie nach wie vor für die These ein, dass Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten respektiert werden müssen und dass es keine gewaltsamen Grenzveränderungen geben sollte. So versuchen sie deutlich zu machen, dass sie ihre strategische Partnerschaft mit Russland verstärken wollen. Und dennoch haben sie, soweit wir wissen, bislang in keiner ernstzunehmenden Weise gegen die Wirtschaftssanktionen oder die Exportkontrollen verstoßen. Sie haben außerdem keine militärische Ausrüstung geliefert, die auf dem Schlachtfeld in der Ukraine eingesetzt werden könnte.
Könnte sich das ändern?
Das könnte sich ändern, wenn China wirklich glaubt, dass Putin eine strategische Niederlage droht. Xi hat sich so eng an Putin gebunden, dass eine Niederlage oder ein strategischer Rückschlag für Putin auch eine strategische Niederlage für China bedeuten würde. Xi kann es sich also nicht leisten, dass sein Partner stürzt. Und ich denke, der einzige Grund, warum China Russland schließlich Waffen liefern würden, wäre, wenn sie glauben, dass dies den Unterschied zwischen einer Niederlage Putins und seinem Überleben ausmachen könnte.
Wie würden die Vereinigten Staaten auf einen solchen Schritt reagieren?
Es würde die derzeit ohnehin nicht guten Beziehungen zwischen den USA und China geradezu abstürzen lassen. Es gäbe Wirtschaftssanktionen, strengere Exportkontrollen und eine stärkere Entkopplung der beiden Volkswirtschaften, wie etwa obligatorische Investitionsbeschränkungen für US-Firmen, die in China investieren. Der Kongress ist bereit, diese Maßnahmen zu ergreifen. Und ich glaube nicht, dass Biden sich ihnen in den Weg stellen würde.
Selbst wenn es nicht so weit kommt: Die chinesisch-amerikanischen Beziehungen sind im Moment in einem schlechten Zustand. Was bedeutet das für Taiwan?
Ich denke, dass eine Gefahr für Taiwan nicht unmittelbar bevorsteht. Vielleicht liege ich da falsch, denn es gibt einige sehr angesehene Leute, die der Meinung sind, dass es für Xi eine Chance geben könnte, oder zumindest könnte er glauben, dass es eine Chance gibt, sich die Insel schnell einzuverleiben. Es gibt Berichte, wonach Xi seinem Militär mitgeteilt hat, dass er in der Lage sein will, Taiwan bis 2027 militärisch zu erobern und jede Reaktion der USA zu bewältigen. Das ist weniger als fünf Jahre entfernt.
Beeinflusst der Krieg in der Ukraine Xis Denken in dieser Frage?
Ich hoffe, Xi zieht aus der Ukraine die Lehre, dass sein Militär vielleicht nicht so gut ist, wie er denkt – genauso wie Putins Militär nicht so gut war, wie er dachte. Und womöglich zieht er in Erwägung, dass es eine überraschende internationale Reaktion geben könnte, wenn er in Taiwan einmarschiert – so wie Putin von der engen Kooperation zwischen den Vereinigten Staaten und Europa und unseren asiatischen Verbündeten mit Blick auf die Ukraine überrascht war.
Worum geht es bei dem Streit um Taiwan?
Der kommunistische Machtanspruch geht auf die Gründungsgeschichte der Volksrepublik China zurück. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten zog die nationalchinesische Kuomintang-Regierung mit ihren Truppen nach Taiwan, während Mao Tsetung 1949 in Peking die Volksrepublik ausrief. Der heutige Staats- und Parteichef Xi Jinping sieht eine „Vereinigung“ mit Taiwan als „historische Mission“.
Stand: September 2023
Die Insel zwischen Japan und den Philippinen hat große strategische Bedeutung. US-General Douglas MacArthur bezeichnete Taiwan einst als „unsinkbaren Flugzeugträger“ der USA. Eine Eroberung durch China wäre ein wichtiger Baustein in dessen Großmacht-Ambitionen, weil es das Tor zum Pazifik öffnen würde.
China zwingt jedes Land, das diplomatische Beziehungen mit Peking haben will, keine offiziellen Kontakte mit Taiwan zu unterhalten. Es ist vom „Ein-China-Grundsatz“ die Rede. Danach ist Peking die einzige legitime Vertretung Chinas. Auf chinesischen Druck wurde Taiwan aus den Vereinten Nationen und internationalen Organisationen ausgeschlossen. Nur wenige kleinere Länder unterhalten noch diplomatische Beziehungen. Deutschland oder die USA betreiben nur eine inoffizielle Vertretung in Taipeh.
Die Taiwaner verstehen sich mehrheitlich längst als unabhängig und wollen zumindest den Status quo wahren. Auch wollen sie als Demokratie international anerkannt werden und sich keinem diktatorischen System wie in Festlandchina unterwerfen. Die frühere Kuomintang-Regierung hatte einst selber einen Vertretungsanspruch für ganz China, was sich bis heute im offiziellen Namen „Republik China“ widerspiegelt. Dieser Anspruch wurde 1994 aufgegeben. Damals wandelte sich Taiwan von einer Diktatur zu einer lebendigen Demokratie. Jede Veränderung des Status quo müsste aus Sicht der Regierung heute demokratisch von den 23 Millionen Taiwanern entschieden werden.
Experten gehen davon aus, dass ein Krieg um Taiwan massive und größere Auswirkungen hätte als der Angriff Russlands auf die Ukraine - auch auf Deutschland. Taiwan ist Nummer 22 der großen Volkswirtschaften, industriell weit entwickelt und stark mit der Weltwirtschaft verflochten. Ein Großteil der ohnehin knappen Halbleiter stammen von dortigen Unternehmen. Wegen der großen Abhängigkeit vom chinesischen Markt wären deutsche Unternehmen massiv betroffen, wenn ähnlich wie gegen Russland wirtschaftliche Sanktionen gegen China verhängt werden sollten.
Stand: September 2023
Reicht das als Garantie für Taiwan?
Ich hoffe, die Ukraine ist ein abschreckendes Beispiel für Xi. Außerdem hat er eine Vielzahl an Möglichkeiten, Taiwan unter Druck zu setzen, ohne eine amphibische Invasion durchzuführen. Zum Beispiel, indem er sich mit taiwanesischen Unternehmen anlegt, die auf dem Festland Geschäfte machen, indem er Cyberangriffe durchführt, um die Währung und den Aktienmarkt zu zerstören, indem er den Luft- und Seeraum um Taiwan für militärische Übungen sperrt, um Lieferketten zu unterbrechen und Taiwan als zuverlässigen Lieferanten in Frage zu stellen. Es gibt also eine Menge Dinge, die Xi tun kann – zusätzlich zu den Schikanen, die er durch das Überfliegen der Mittellinie der Formosa-Straße und das Umfahren Taiwans mit Schiffen ausübt. Es gibt also viele Möglichkeiten, die Insel unter Druck zu setzen, ohne dass es zu einer Invasion kommt. Und natürlich stehen in Taiwan Anfang nächsten Jahres Wahlen an. Ich bin sicher, dass die Chinesen versuchen, diese in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das versuchen sie jedes Mal, wenn in Taiwan eine Wahl stattfindet. Diese Bemühungen sind normalerweise kontraproduktiv, aber das hält sie nicht davon ab, es zu versuchen.
In Ihrem neuen Buch „Hand-off“, in dem Sie die außenpolitischen Memoranden des Übergangs zwischen der Bush- und der Obama-Regierung veröffentlichen, werden China und Russland ganz anders beschrieben, als sie heute erscheinen. Was hat sich seit 2008 geändert?
Damals wollten beide Länder Teil des internationalen Systems sein. Beide wollten aus unterschiedlichen Gründen eine konstruktive Beziehung zum Westen haben. Russland, denke ich, vor allem aus einem Gefühl der Schwäche heraus und China aus dem Wunsch heraus, ein günstiges internationales Umfeld zu haben, damit es sich auf seine Entwicklung konzentrieren kann. Wir hatten mit beiden eine kooperative Beziehung und arbeiteten in vielen Bereichen zusammen: Terrorismusbekämpfung, Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die globale Finanzkrise, Rüstungskontrolle mit Russland. Und das ist sicherlich nicht das Russland und China, mit dem Präsident Biden heute zu tun hat. Das ist eine ziemlich auffällige Veränderung.
Lesen Sie auch: Die Zeitenwende – Eine Abrechnung
Kann Washington noch Vereinbarungen mit Peking über die großen Themen der heutigen Welt treffen?
Ich denke, dass sowohl Biden als auch Xi die Beziehungen auf einer gewissen Ebene stabilisieren, die Kommunikationskanäle auf einer Vielzahl von Ebenen wiederherstellen und das Risiko in den Beziehungen verringern möchten. Biden steckt mitten im Wahlkampf, und ich glaube, dass Xi eine kleine Pause braucht, um einige seiner innenpolitischen Herausforderungen anzugehen. Ich glaube also, dass sie die Temperatur ein wenig herunterfahren wollen.
Also ist noch nicht alles verloren?
Es gibt Dinge, die wir nicht aus den Augen verlieren sollten. Ja, es gibt eine gewisse Entkopplung, insbesondere in den High-Tech-Bereichen, aber trotzdem und trotz der weiterhin gültigen Zölle erreichte der Handel zwischen China und den Vereinigten Staaten im Jahr 2022 ein Rekordniveau von weit über 700 Milliarden Dollar. Es gibt also noch Raum für robuste Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern. Und es liegt im Interesse beider Länder und der Weltwirtschaft, dass dies so bleibt. Es scheint, dass beide Länder immer noch der Meinung sind, dass es Raum für eine Zusammenarbeit beim Klimawandel und bei Pandemien gibt, aber die Kräfte, die Washington und Peking auseinandertreiben, sind sehr stark.
Was meinen Sie genau?
Sie haben gesehen, was der Zwischenfall mit dem Ballon über den USA, bei dem es zwar um Souveränität ging, der aber keine wirkliche Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellte, für die Beziehungen bedeutet hat. Meine Befürchtung ist also, dass, auch wenn die beiden Staatsoberhäupter das Verhältnis stabilisieren wollen, sie von den politischen Kräften in ihren Ländern auseinandergetrieben werden. Dabei wissen wohl beide, dass es für sie von Vorteil ist, wenn sie weiter zusammenarbeiten – etwa bei Themen wie der Bekämpfung des Klimawandels. Ich glaube, sie wollen zusammenarbeiten. Und die Welt will das auch.
Das Interview wurde für die Verschriftlichung redaktionell bearbeitet.
Lesen Sie auch: Bestehende Probleme hinter den Kulissen konnte die Münchner Sicherheitskonferenz offenbar kaum lösen.