Zum Schluss wird der Geist namens Brexit auf der Konferenz der Europäischen Zentralbank (EZB) in den Bergen Sintras doch aus der Flasche gelassen. Zwar muss das eigentlich geplante hochkarätige Notenbankertreffen zwischen Gastgeber Mario Draghi, Fed-Chefin Janet Yellen und Bank of England-Chef Mark Carney aus gegebenem Anlass ausfallen. Der als Diskussionsleiter vorgesehene ehemalige EZB-Chef Jean-Claude Trichet wird allerdings mit dem Vorsitz einer Diskussionsrunde zum Thema Brexit entschädigt, an der er sichtlich Freude hat.
Das Brexit-Votum zeige eine „deutliche Dynamik gegen die Eliten“, sagt Trichet. Und damit meinte der ehemalige Chef-Zentralbanker wohl nicht nur die Brüsseler Politik-Elite, sondern auch seine eigene Zunft.
Nachdem sein Nachfolger Mario Draghi sich am Dienstag in seiner Eröffnungsrede zum Thema Brexit noch ausgeschwiegen hatte, schickte die EZB nun dessen Stellvertreter Vítor Constâncio auf die Brexit-Bühne. Der versteht es, die Zentralbank ins richtige Licht zu rücken. „Unsere Politik ist ein wichtiger stabilisierender Faktor“, sagte Constâncio, der sonst oft im Schatten Draghis steht. Ohne die EZB und ihre Geldpolitik, so der portugiesische Volkswirt, wäre die Situation rund um den Brexit gefährlicher gewesen.
Auch wenn sich das schwer nachweisen lässt, mit einem hat Constâncio vermutlich Recht: Dies sei kein zweiter Lehman-Moment, sagt er. „Es gab kein systemisches Versagen der Finanzmärkte.“ Es habe immer Käufer und Verkäufer gegeben, ein Einfrieren des Handels sei ausgeblieben. Natürlich könne es immer noch brenzlig werden, räumt der Portugiese ein. „Aber in den vergangenen zwei Tagen haben sich die Kurse erholt“, sagt Constâncio.
EZB unter Druck
Kritiker werfen der EZB und den anderen Aufsichtsorganen an den Finanzmärkten zeitweise vor, durch die zunehmende Regulierung Liquidität aus den Märkten zu saugen, die im Krisenfall dringend benötigt werden könnte. Damit riskiere sie Stillstände an den Märkten.
Der Brexit zeige, dass das nicht der Fall sei, erklärt der EZB-Vize. Er rechnet im Fall eines Brexit mit 0,1 Prozent weniger Wachstum in der Euro-Zone. Mario Draghi bezifferte den Effekt zuletzt auf 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte in den kommenden drei Jahren.
Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid
„Wir müssen einen sanften Übergang in eine neue wirtschaftliche Beziehung sicherstellen. Der IWF unterstützt die Bank von England und die Europäische Zentralbank darin, für die nötige Liquidität des Bankensystems zu sorgen und Schwankungen nach der Abstimmung zu begrenzen.“
„Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor.“
„Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“
„Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten.“
„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern.“
„Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden.“
„Weniger Wirtschaftswachstum in den EU-Staaten und ein schwächeres Exportgeschäft werden die Konsequenzen sein.“
„Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen schnell die dringend erforderlichen Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Fairness im EU-Binnenmarkt in Angriff nehmen.“
"Es kommt jetzt darauf an, ob wir eine saubere oder eine schmutzige Scheidung bekommen. Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt. Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land ist zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten.
Der Brexit stellt auch ein politischen Risiko für die EU dar. Denn das wird den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind geben. Die Regierungen werden noch weniger als bisher mehr Europa wagen, so dass die Probleme der Währungsunion weitgehend ungelöst bleiben. Was die EZB mehr denn je zwingt, die Probleme durch eine lockere Geldpolitik zu übertünchen.
Der Brexit schafft Unsicherheit und ist insofern schlecht für die deutsche Wirtschaft. Aber wir erwarten nicht, dass der Euro-Raum in die Rezession zurückfällt. Das gilt auch für Großbritannien und erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet."
"Jetzt kommt eine große Phase der absoluten Unsicherheit. Denn etwas Vergleichbares hatten wir noch nicht. Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft." Der Aufschwung in Großbritannien dürfte nun weitgehend zu Ende sein, in der Euro-Zone werde er sich abschwächen. Hersteller von Investitionsgütern wie Maschinen und Autos dürften die Folgen stärker spüren. "Deutschland ist also stärker betroffen als beispielsweise Spanien", sagte Schmieding.
"Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft", sagte er. "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt." Es sei wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibe.
"Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten. Die Politik muss jetzt versuchen, das Beste aus einer Entscheidung zu machen, die die EU schwächt. Das wird lange brauchen. Und so lange wird Unsicherheit das Geschehen prägen, zumal die Fliehkräfte in anderen EU-Ländern stärker zutage treten werden. Das Ergebnis kann auch die Nicht-Mainstream-Parteien in Spanien stärken, wo am Sonntag gewählt wird. Bis gestern hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik."
"Das Ergebnis des Referendums ist kein gutes Signal für Europa. Aber es ist vor allem kein gutes Signal für Großbritannien. Die politischen Strukturen der EU sind stark. Und anders als bei einem 'Grexit', also dem Ausscheiden eines Landes aus der Währungsunion, für das es keine rechtliche Grundlage gibt, ist die Prozedur für das Ausscheiden eines Landes aus der EU rechtlich klar geregelt. Die Folgen für den europäischen Integrationsprozess werden weniger gravierend sein, als jetzt oft vorschnell beschrieben. Auch wenn es schwierig wird: Die EU kann einen Austritt Großbritanniens verkraften.
Innerhalb Europas sollte der Fokus der nächsten Monate auf der Vertiefung des Euro-Raums liegen. Die Euro-Krise ist immer noch nicht ausgestanden. Die EZB hat die Grenze ihres Mandats erreicht. Nun müssen sich die Euro-Länder so schnell wie möglich auf einen Stabilisierungsplan einigen, der sowohl mehr Risikoteilung (vor allem schwierig für Deutschland) als auch mehr Souveränitätsteilung (vor allem schwierig für Frankreich) umfasst. Allerdings ist für einen solchen Plan kaum Zeit."
"Jetzt wird es turbulent an den Finanzmärkten. Das Pfund ist bereits auf einem 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar. In absehbarerer Zeit sollten wir aber wieder eine Erholung sehen. Die Finanzmärkte fragen sich jetzt: Wie sieht das neue Verhältnis zwischen EU und Großbritannien aus? Die Briten könnten künftig Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, wie Norwegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Verhältnis EU-Großbritannien damit beendet ist. Die EU wird das Land nicht am langen Arm verhungern lassen.
Mit dem heutigen Tag ändert sich erst einmal gar nichts. Es wird jetzt Verhandlungen mit der EU geben. So lange bleibt GB Vollmitglied der EU, also die nächsten zwei Jahre. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verändern wird. Die Briten dürften es aber merken: Die dortigen Unternehmen dürften jetzt Investitionen überdenken. Aber ich denke nicht, dass das Land nun in eine Rezession fällt."
Ausruhen kann sich die Zentralbank allerdings nicht. Im Gegenteil. Die deutlichsten Anzeichen für signifikantes Misstrauen gebe es im Bankensektor, warnt Constâncio im Hinblick auf die massiven Kursverluste, die Bankaktien nach dem Referendum in Großbritannien schon erlitten haben.
Die Aktie der Deutschen Bank fiel am Montag auf den tiefsten Stand seit Bestehen des Dax und war nur noch gut zwölf Euro wert.
Generell dürften Europas Banken in den kommenden Monaten die größten Sorgenkinder der EZB sein. Denn die Deutsche Bank ist mit ihren Verlusten nicht allein. Das Schlusslicht bilden eindeutig die italienischen Geldinstitute. Während die Deutsche Bank im laufenden Jahr bisher „nur“ rund 44 Prozent an Börsenwert eingebüßt hat, sind es bei der italienischen Großbank Unicredit rund 62 Prozent. Die Banco Populare aus Verona verlor sogar mehr als 75 Prozent.
Constâncio warnt vor Kapitalabbau
Auch Constâncio konnte in seiner kurzen Rede nicht verheimlichen, dass die fragile Lage der Banken eine Gefahr darstellt. Es bestehe das Risiko, dass die Institute nicht genug Kernkapital aufnehmen könnten. „Würden die Banken erneut anfangen, Kapital abzubauen, wäre das sehr schlecht für die Wirtschaft der Euro-Zone“.
Constâncio trifft mit seinen Ausführungen den Nerv vieler Konferenz-Teilnehmer. Europas Banken müssten endlich den hohen Bestand ihrer notleidenden Kredite abbauen, heißt es unisono. Die größte Gefahr sehen die meisten, ähnlich wie die Finanzmärkte, bei italienischen Banken.
„Europas Banken sind nicht gut kapitalisiert“, warnt Darrel Duffie, Professor in Stanford. Eine besonders große Bank habe sogar nur eine Marktkapitalisierung von einem Prozent ihrer Anlagen. Das Problem ist bei weitem nicht lokal.
„Die italienischen Banken sind ein großes Problem für die gesamte Euro-Zone“, warnt der renommierte Ökonom Barry Eichengreen gegenüber der WirtschaftsWoche. Auch die stellvertretende Bundesbank-Chefin Claudia Buch mahnt, allein die Profitabilität von Banken sei kein ausreichender Indikator für die Stärke des Finanzsystems.
Insbesondere in Europa hätten Banken es verpasst, ihren Kapitalpuffer ausreichend aufzustocken, meint Mark Burgess, Chefinvestor für Columbia Threadneedle in London. In den USA und Großbritannien sehe das besser aus. Die Schuld für die miserable Lage der Banken gibt Burgess auch der EZB. „Die Notenbanken verteilen das magische Kapital, was die Banken haben wollen“. Es mangele den Geldhäusern also nicht an Geld, aber an Kernkapital. Bei dessen Aufbau helfen eben auch die Notenbanken nicht weiter, so Burgess. Der Skeptiker will große Fusionen am Bankenmarkt in Zukunft nicht ausschließen.
Laut EZB-Vize Constâncio hat die Notenbank die richtigen Maßnahmen zur Behandlung der Banken-Sorgen schon ergriffen. Seit kurzem verleiht die Zentralbank den Instituten Geld zum Nulltarif. Wenn die Banken das Geld in Form von Krediten an die Realwirtschaft weitergibt, ist die Situation sogar noch skurriler. „Wir bezahlen die Banken dafür, dass sie Geld verleihen“, sagt Constâncio im Hinblick auf die neuen Langfristtender TLTRO-2.
Brexit und Bankenkrise sorgen derweil weiter dafür, dass an den Finanzmärkten über expansive Maßnahmen der Zentralbank spekuliert wird. Darauf will sich die EZB nicht festnageln lassen. „Wir müssen abwarten, um zu sehen wohin sich die Dinge nach dem Brexit entwickeln“, sagt Constâncio. „Wir haben immer noch Instrumente“, fügt der Portugiese hinzu.
Allerdings räumte er auch ein, dass die EZB viele der möglichen Maßnahmen bereits genutzt hat. Vorerst dürften es vor allem die Kollegen aus der Bankenaufsicht sein, bei denen sich mehr Überstunden anhäufen.