Freytags-Frage
Muss die europäische Politik infolge des Russland-Angriffs neue Prioritäten setzen? Quelle: REUTERS

Wie realitätsnah ist die europäische Klimapolitik?

Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Welt erschüttert – wird er uns nun auch im Kampf gegen den Klimawandel zurückwerfen?

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Die letzten Wochen haben ein völlig neues Licht auf die Prioritätensetzung europäischer Politik geworfen. Äußere Sicherheit muss wieder großgeschrieben werden. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der vielen Krisen sind noch überhaupt nicht absehbar und müssen kontrolliert werden. Und die Bereitschaft großer Volkswirtschaften, alles dem Klimaschutz unterzuordnen, wie sie im Klimaprogramm „Fit for 55“ der Europäischen Union (EU) und im Koalitionsvertrag – nicht zu vergessen die vielen Aussagen führender deutscher Politiker – aufscheint, scheint angesichts der Pandemie und des russischen Angriffs auf die Ukraine deutlich niedriger zu sein als bisher gehofft.

Das kann man gut daran erkennen, wie in anderen Ländern mit dem Klimaschutz umgegangen wird. Diese Kolumne wurde am Rande einer Tagung in den Vereinigten Staaten (USA) verfasst. Dort findet man nach wie vor beim Frühstück in den Hotels Plastikbesteck und Pappteller, alles natürlich anständig mit Plastik verpackt. Die Autos scheinen immer größer zu werden, Mobilität wird nach wie vor zumeist individuell organisiert, und die Häuser sind weiterhin im Durchschnitt schlecht isoliert und mit Klimaanlagen temperiert. Das ist kein Vorbild, zeigt aber, dass die Prioritäten andere sind. Auf anderen Kontinenten ist es nicht anders, auch dort werden die unmittelbaren Bedürfnisse der Bevölkerung nach mehr Wohlstand höher gewertet als der langfristig wirkende Klimaschutz. Interessanterweise war Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) in den USA, als er sagte, dass Klimapolitik nicht immer die oberste Priorität haben könnte.

Daraus sollte die EU die richtigen Schlüsse ziehen, zumal die jüngsten Preissteigerungen für fossile Brennstoffe die Regierungen und die Kommission offenbar selbst überrascht haben. Es zeigt sich auch hierzulande, dass die Mehrheit der europäischen Bevölkerung Klimaschutz vor allem dann befürwortet, wenn er materiell nicht spürbar ist. Das ist möglich, wenn die notwendigen Anpassungen zeitlich gestreckt und marktwirtschaftlich organisiert stattfinden. Dann werden Menschen beispielsweise ihre Heizungen nicht austauschen, weil es ihnen befohlen wird, sondern weil die Preise für Gas oder Heizöl langsam steigen und gleichzeitig die Alternativen günstiger und vielfältiger werden. Klimaschutz ist dann in aller Bürger Interesse. Leider ist das gerade nicht der europäische Weg. Die Kommission und die Bundesregierung glauben, alles zu wissen, und trauen weder den Menschen noch den Unternehmen zu, im Sinne des Klimas zu handeln.

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In der Tat muss man sich über die planwirtschaftlichen Vorstellungen in Brüssel und Berlin wundern. Die – inzwischen verworfene – Idee, 15 Prozent des Gebäudebestandes in Europa wegen mangelnder Isolierung an einem Stichtag in naher Zukunft für unbewohnbar erklären zu wollen, zeigt eine unglaublich weltfremde Abgehobenheit der politischen Entscheidungsträger. Aber auch ohne dieses Element zeigen sie eine sehr engstirnige Haltung. Sie wollen vorschreiben, mit welcher Technologie zu heizen ist, Verbrennungsmotoren an einem Stichtag verbieten und bestimmte Kraftwerke an einem anderen Stichtag abschalten. Aber sie wollen nicht auf russisches Gas verzichten!

Hinzu kommt, dass die EU im Vergleich zu anderen Regionen schon recht weit im Austausch alter Technologien fortgeschritten ist und weitere Emissionseinsparungen nur zu recht hohen Kosten realisieren kann – wiederum im Vergleich zu anderen Regionen. Vor diesem Hintergrund wäre es das Beste, europäisches Geld nicht ausschließlich für teure Einsparungsmaßnahmen hierzulande, sondern auch für klimapolitische Maßnahmen auf anderen Kontinenten zu verwenden. Die Wasserstoffinitiative wäre ein Beispiel dafür. Das müsste natürlich gekoppelt werden mit der Berücksichtigung und Durchsetzung eigener Interessen.

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Ohnehin fehlt der europäischen Klimapolitik die Einbettung in eine umfassende Strategie zur Durchsetzung europäischer Interessen, wenigstens solange man über die Landwirtschaft hinausdenkt. Die jüngste Aggression der russischen Regierung sollte allen politischen Entscheidungsträgern in der EU auf allen Ebenen klar gemacht haben, dass Klimapolitik nicht ohne Sicherheitspolitik, Entwicklungspolitik, Außenpolitik und Wirtschaftspolitik gedacht werden kann – dies gilt zumindest dann, wenn man nicht nur Symbolpolitik zum Wohlfühlen betreiben möchte.



Klimapolitik ist eben keine Frage der Moral, sondern der Zweckmäßigkeit und der Erfolgswahrscheinlichkeit. Betten wir sie in das allgemeine Politikgeflecht ein, können wir global weit vorankommen. Damit andere sich klimafreundlich verhandeln, müssen wir etwas bieten – und dürfen nicht nur moralisierend fordern. Wir müssen die globale Sicherheitslage und internationale Ordnung im Zusammenhang mit der Klimafrage denken. Das sollte spätestens seit dem Überfall auf die Ukraine klar geworden sein. Auch dürfen die sozialen Probleme – weltweit – nicht ignoriert werden.

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Konkret heißt das, dass die EU sich nicht in kleinteiligen Verordnungen zum Beispiel zu Wärmpumpen verlieren darf, sondern umfassende sicherheits-, entwicklungs-, außenwirtschafts- und klimapolitische Pakete schnüren muss, in denen alle Partner ihre Interessen wiederfinden. So kann man das Problem viel besser einordnen und vor allem den Respekt und die Unterstützung wichtiger Partner im Klimaschutz gewinnen. Gerade die USA und China werden gebraucht, um das Klima zu schützen.
Es kann nämlich nicht genug betont werden, dass das Klimaproblem ein globales ist. Anders gewendet: Wenn hierzulande sämtliche Altbauten so teuer saniert werden, dass die Bewohner sie sich nicht mehr leisten können, ist dem Klima überhaupt nicht geholfen. Wer Klimaschutz ernst meint, fängt endlich an, in großen Zügen zu denken. Davon ist die europäische Klimapolitik weit entfernt. Aber es besteht Hoffnung, denn wenn die Bundesregierung eine sicherheitspolitische Wende hinbekommt, könnte sie es beim Klima auch schaffen.

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