Freytags-Frage
Ein Mann auf einem Parkplatz vor Metro in Mariupol. Quelle: imago images

Wie sollte der Marshall-Plan für die Ukraine aussehen?

Im Krieg in der Ukraine sind bisher Werte von bis zu 750 Mrd. Euro zerstört worden. Damit die ukrainische Wirtschaft wieder Tritt fassen kann, muss bereits jetzt über den Wiederaufbau nachgedacht werden.

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Nach fast fünf Monaten Mord und Zerstörung in der Ukraine durch die russische Invasionsarmee stellt sich nicht nur die Frage nach der Dauer des Krieges. Es muss auch darüber nachgedacht werden, wie die ukrainische Wirtschaft in naher Zukunft wieder Tritt fassen kann. Denn die Bilanz ist erschreckend. Neben dem menschlichen Leid zeigt sich, dass die Zerstörungen etwa das drei-bis vierfache des ukrainischen Bruttosozialprodukts (BIP) von etwa 200 Mrd. Euro im Jahr 2021 ausmachen; es sind Werte in Form von Fabriken, Infrastruktur, Schulen, Theatern, Krankenhäuser und Wohnhäuser von geschätzt bis zu 750 Mrd. Euro vernichtet worden.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass die russische Aggression noch eine geraume Zeit anhalten wird, ist es wichtig, schon jetzt über den Wiederaufbau nachzudenken. Während des Krieges werden Investoren nicht bereit sein, sich in der Ukraine zu engagieren. Aber direkt anschließend sollte die internationale Gemeinschaft vorbereitet sein. Immerhin ist die Europäische Union (EU) mit der Einladung der Ukraine als Beitrittskandidat genauso in Vorleistung gegangen wie eine größere Gruppe westlicher Länder auf einer Konferenz in Lugano; die sogenannte Luganer Erklärung ist ein klares Bekenntnis zur Unterstützung des Wiederaufbaus in der Ukraine.

Es gibt viel zu tun. Neben dem physischen Wiederaufbau gilt es, Anspruch und Wirklichkeit der Regierungsführung in der Ukraine in Einklang zu bringen. Nach allen zur Verfügung stehenden Kennzahlen entspricht die Regierungsführung des Landes nicht den Standards der EU; es dürfte gegenwärtig unmöglich sein, die Kopenhagener Beitrittskriterien zu erfüllen. Institutionelle Reformen hin zu weniger Korruption, mehr politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten sind unabdingbar nicht nur für den EU-Beitritt. Wenn die Ukraine aus dem Konflikt gestärkt hervorgehen will, muss sie für geeignete demokratische Strukturen sorgen. Die Chancen stehen dabei gut, weil bereits seit Amtsantritt des Präsidenten Selenskyj Versuche unternommen worden sind, sich westlichen Standards der Regierungsführung anzunähern. Die russische Aggression hat den Appetit auf eine freiheitliche Ordnung in der Ukraine sicherlich gesteigert. Die in der Luganer Erklärung formulierten Luganer Prinzipien sind Ausdruck der Erwartung an eine bessere Zukunft der Ukraine.

In dieser Erklärung sind keine Zahlen zu Unterstützungszahlungen genannt worden. Aber es stehen immerhin russische Währungsreserven in Höhe von 300 Mrd. Euro zur Verfügung; hinzu kommt das eingefrorene Vermögen russischer Oligarchen, deren Wert noch zu beziffern ist. Dieses Kapital sollte der ukrainischen Regierung zur Verfügung gestellt werden. Darüber scheint auch weitgehend Einigkeit zu bestehen; wichtig ist aber natürlich, dass die Nutzung in Einklang mit geltendem Recht geschieht.

Aber es reicht nicht, den Gegenwert der Zerstörung dem Land zur Verfügung zu stellen. Ohne internationale Unterstützung im weitesten Sinne wird die Ukraine sich nicht von der Invasion erholen. Die Hilfe sollte gut organisiert und abgestimmt sein. Der Bundeskanzler hat bereits zum G7-Gipfel einen Marshallplan für die Ukraine ins Gespräch gebracht. Dies ist eine sehr gute Idee, denn mit dem Marshallplan verbinden Europäer in Ost und West vor allem positive Assoziationen. Ein solcher Plan ist auch mehr als ein Transfer von finanziellen Mitteln, er verlangt der Ukraine eine Menge ab. Was ist zu tun?

– Zentral sind institutionelle Reformen und die Zementierung demokratischer Strukturen. Das erfordert sicherlich enorme juristische Anstrengungen. Hier könnten Berater aus den osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten, zum Beispiel dem Baltikum, sicherlich helfen.

– Ein weiteres wesentliches Element ist die Wirtschaftsordnung. Estland hat 1992 sehr gute Erfahrung damit gemacht, die Lehren aus den Erhard’schen Reformen des 20. Juni 1948 und der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland in der Folge auf die eigene Situation anzuwenden. Dieser Schritt ist der ukrainischen Regierung ebenfalls zu empfehlen. Es kann dabei nicht um eine Kopie des deutschen oder estnischen Models, sondern um eine kluge Adaption an die ukrainischen Verhältnisse und deren geplanter Dynamik gehen. Beratung aus Estland oder Deutschland kann hilfreich sein.

– Eine sehr gute Option bieten sogenannte Sonderwirtschaftszonen (Special Economic Zones, SEZ). Dort könnten unterschiedliche Steuermodelle und Regulierungen in einer Art internem Systemwettbewerb ausprobiert werden, um Erfahrungen dabei zu sammeln, wie der Reformprozess insgesamt ausgestaltet werden könnte.

– Denn es ist zentral, dass neben öffentlichen Hilfen zum Aufbau der Infrastruktur ausländische Investoren in der Ukraine aktiv werden. Nur so können nötige Produktivitätssteigerungen in der ukrainischen Wirtschaft, die gerade im sekundären (anders als im tertiären) Sektor noch keinen Anschluss an die internationale Spitze gefunden hat, initiiert werden.

– Dazu sollten die westlichen Regierungen potentielle heimische Investoren großzügig mit Investitionsgarantien zur Absicherung politischer und sicherheitsrelevanter Risiken unterstützen. Es wäre zudem wichtig, dass die Partnerregierungen auch die Exportkreditfinanzierung für Exporte in die Ukraine beispielsweise zum Aufbau der Infrastruktur großzügig unterstützen. Beide Instrumente sind preiswerte Hilfsmaßnahmen, die zielgenau und effizient den Wiederaufbau unterstützen und dabei die Integration der ukrainischen Wirtschaft in die Weltwirtschaft unterstützen können.

– Diese Integration kann auch auf der Ebene der Welthandelsorganisation unterstützt werden. Wenn sich die WTO-Mitglieder, die bereits heute der Ukraine Hilfen zugesagt haben, dazu durchringen können, der Ukraine spezielle Präferenzen für deren Exportgüter zumindest für die unmittelbare Zukunft einzuräumen, könnte dies ebenfalls zur schnelleren Integration der dortigen Unternehmen in regionale oder globale Wertschöpfungsketten erleichtern.

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– All diese Unterstützungsmaßnahmen dürfen aber keine Hemmnisse dafür darstellen, dass die Leitung des gesamten Wiederaufbauprozesses in der Ukraine bei Regierung und Zivilgesellschaft liegt. Der Westen kann helfen, darf aber nicht eigene Vorstellungen oktroyieren. Das heißt nicht, dass die Reformen beliebig sind. Durch den Wunsch, der EU beizutreten, hat sich die Ukraine auf die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien festgelegt. Dennoch muss die Agenda in Kiew bestimmt werden.

Der Wiederaufbau in der Ukraine ist eine Herkulesaufgabe, die ohne Unterstützung von außen kaum zu bewältigen ist. Wenn diese Unterstützung klug und abgewogen stattfindet und dem Vorbild der Nachkriegszeit in zeitgemäßer Form folgt, stehen die Chancen nicht schlecht. Vom enormen Leid und der sinnlosen Zerstörung abgesehen, könnte das Land gestärkt aus dieser Zeit hervorgehen.

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