Die Zukunft der Ukraine Wie ein neuer Marshallplan funktionieren könnte

Köln 1945, nach der Zerstörung durch die Alliierten. Quelle: imago images

Wie lässt sich die Ukraine nach einem Ende des Krieges wieder aufbauen – und was können wir aus dem Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg lernen? Eine ganze Menge, sagt der Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen in einem Gastbeitrag.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Der Ruf nach einem neuen Marshallplan für die Ukraine ist heute in aller Munde. Aber wie sollte ein solches Hilfsprogramm aussehen? Es ist unmöglich, die Kosten des Wiederaufbaus zu beziffern, solange nicht klar ist, wie lange der Krieg dauert und wie viele Gebiete künftig von der ukrainischen Regierung kontrolliert werden können. Dass die USA bereit waren, Europa nach dem Zweiten Weltkrieg mit fast fünf Prozent ihres BIP von 1948, verteilt über vier Jahre, zu unterstützen, sagt nichts darüber aus, ob dies nun auch die richtige Höhe der Unterstützung für die Ukraine ist.

Trotzdem lassen sich aus dem Marshallplan durchaus Lehren für die heutige Zeit ziehen. So begannen die Auszahlungen damals bereits, als in Europa noch gekämpft wurde. Obwohl zum Beispiel der griechische Bürgerkrieg bis zum Sommer 1949 dauerte, erhielt Griechenland bereits 1948 Marshall-Hilfe.

In ähnlicher Weise könnte die Hilfe für die Ukraine schon jetzt beginnen. Sie sollte aber mit Bedacht eingesetzt werden. Es wäre sinnlos, Brücken zu reparieren, die sich von Russland einfach wieder zerstören lassen. Zudem ist es wichtig, daran zu erinnern, dass die Mittel des Marshallplans zu mehr als 90 Prozent aus Zuschüssen und nur zu zehn Prozent aus Darlehen bestanden. Aktuell wird gefordert, dass die westlichen Mächte für neue ukrainische Staatsanleihen bürgen sollen. Dies würde die Kreditkosten der Regierung in den einstelligen Bereich senken und Mittel für den Wiederaufbau bereitstellen. Aber die Ukraine würde dadurch noch höher verschuldet, obwohl sie bereits mit der Umstrukturierung ihrer Altschulden konfrontiert ist. Garantien für zusätzliche ukrainische Kredite wären für westliche Regierungen lediglich eine Möglichkeit, sich bei der Wiederaufbauhilfe zu drücken.

Zur Person

Wichtig ist auch die Frage der Organisation von Finanzhilfen. Damals errichteten die USA eine unabhängige Agentur zur Verwaltung des Marshallplans. Losgelöst von der Bürokratie des US-Außen- und Finanzministeriums nahm die Economic Cooperation Administration (ECA) ihre Arbeit schnell auf. Sie konnte dabei auf das Fachwissen des Privatsektors zurückgreifen, angefangen bei ihrem Leiter Paul Hoffman, dem Präsidenten von Studebaker. Die ECA geriet auch nicht in Konflikt mit den Vereinten Nationen, wo die Mitgliedschaft der Sowjetunion Probleme hätte verursachen können.

Die Hilfe für die Ukraine sollte in ähnlicher Weise von einer autonomen Agentur verwaltet werden, die den Regierungen der Geberländer gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Sie könnte zwar den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank konsultieren und sich im Idealfall mit ihnen abstimmen, sollte aber angesichts der russischen Mitgliedschaft in beiden Organisationen ihre Unabhängigkeit wahren.

Die Architekten des Marshallplans hielten es für notwendig, dass die Hilfeempfänger auch Eigenverantwortung zeigen und gingen nach der Maxime „Vertrauen und Kontrolle" vor. Die europäischen Regierungen hatten detaillierte Pläne für die Verwendung der US-Mittel vorzulegen. Auf dieser Basis kam es zu harten Verhandlungen mit dem ECA, bevor die Gelder ausgezahlt wurden. Verwaltungsreformen etwa waren ein Schwerpunkt und eine Vorbedingung für die Marshallplan-Hilfe. In korruptionsanfälligen Ländern wie Griechenland hatte die ECA Hunderte von Berichterstattern in den zuständigen Ministerien.

Die Ukrainer dürften verständlicherweise empfindlich auf eine ausländische Einmischung in ihren Wiederaufbau reagieren. Aber eine ausländische Aufsicht ist der Preis für ausländische Hilfe - insbesondere in dem Umfang, den die Ukraine benötigen wird. Die Regierung in Kiew kann für Sicherheit sorgen, indem sie die Transparenz ihrer Ausgaben erhöht.

Der Marshallplan räumte dem Wiederaufbau von Exportkapazitäten Priorität ein. Er erkannte die belebende Wirkung des internationalen Wettbewerbs und den politischen Nutzen der europäischen Integration. Die Ukraine hat mit Sicherheit noch einen langen Weg bis zur EU-Mitgliedschaft vor sich. Dieser Weg lässt sich jedoch beschleunigen, wenn die westliche Hilfe so strukturiert wird, dass die ukrainischen Institutionen und die ukrainische Politik mit denen der EU in Einklang gebracht werden.

Der Marshallplan ermöglichte Europa, das den USA damals technologisch Jahrzehnte hinterherhinkte, einen innovativen Sprung.

Exklusive BCG-Analyse Die 10 besten Aktien der Welt

Die politische Weltlage und Sorgen vor weiter hohen Zinsen verunsichern die Börse. Das exklusive Ranking der besten Aktien der Welt – und zehn Titel, die jetzt kaufenswert sind.

Finanzielle Freiheit Von Kapitalerträgen leben – wie schaffe ich das?

Ein Leser will seinen Lebensunterhalt mit aktivem Börsenhandel bestreiten. WiWo Coach Michael Huber erklärt, worauf man bei diesem Plan achten sollte, und rechnet vor, wie viel Grundkapital dafür nötig ist.

Baustoff-Innovation Die grüne Zukunft des Klimakillers Zement

In Schleswig-Holstein läutet Weltmarktführer Holcim die Dekarbonisierung der Zementproduktion ein. Aus dem Klima-Schadstoff soll ein Zukunftsgeschäft werden.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Anstatt die europäische Industrie einfach nach dem Vorbild der Vorkriegszeit wiederaufzubauen, bemühte man sich um den Transfer modernster amerikanischer Fertigungstechnologie. Europäische Beamte, Betriebsleiter und Gewerkschafter reisten im Rahmen von durch den Marshallplan finanzierten Produktivitätsmissionen in die USA, um sich über diese Techniken zu informieren. Sie kehrten mit neuem Wissen zurück, mit spürbaren Vorteilen für das Produktivitätswachstum. Die Ukraine hat nun ebenfalls die Möglichkeit, eine neue Generation von Technologien zu entwickeln. Sie könnte ihr Energiesystem umweltfreundlicher gestalten, ihre Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur modernisieren, die Stadtplanung neu organisieren.

Der Westen kann und sollte dabei helfen.

Lesen Sie auch: Russlands Krieg: Wie zerstört ist die Wirtschaft der Ukraine?

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%