Premier tritt als Parteichef zurück Boris Johnsons Rücktritt ist nur ein Anfang

Der britische Premierminister Boris Johnson hat seinen Rücktritt angekündigt. Quelle: REUTERS

Der britische Regierungschef Boris Johnson ist bereit, zurückzutreten und gibt schon jetzt sein Amt als Tory-Parteichef ab. Das ist beruhigend. Ein Grund zum Feiern ist es allerdings nicht. Der Premier hat Großbritannien mit seinen Lügen und seinem eigennützigen Vorgehen nachhaltig geschadet. Ein Kommentar.

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Boris Johnson, der unehrlichste, egozentrischste, rücksichtsloseste und moralisch korrupteste Premierminister, den Großbritannien je gesehen hat, wird von seinem Posten zurücktreten. Das ist einerseits beruhigend. Schließlich musste man sich erst am Mittwoch – als Johnson darauf beharrte, er habe weiterhin ein eindeutiges Mandat der britischen Wählerinnen und Wähler – zeitweise fragen, wie wohl das britische Äquivalent zum Sturm auf das Kapitol in Washington im Januar 2021 aussehen würde.

Ein Grund zum Feiern ist es dennoch nicht. Denn Johnson hat das Land mit seinen Lügen und seinem eigennützigen Vorgehen nachhaltig beschädigt. Und es ist fraglich, ob seine Nachfolgerin oder sein Nachfolger der Realität ins Auge blicken und mit der schwierigen Reparaturarbeit beginnen wird. Oder ob sie einfach nur Johnsons Lügengebilde übernehmen und den tragischen Kurs fortsetzen werden, mit dem er das Land gesteuert hat.

Wohl kein Brexit ohne Johnson

Das wohl verhängnisvollste Vermächtnis, das Johnson hinterlässt, ist der Brexit. Es ist sogar gut möglich, dass es diesen ohne ihn nie gegeben hätte. Schließlich haben sich lange nur einige extreme Figuren vom rechten Rand des britischen Politikbetriebs für einen EU-Austritt eingesetzt. Unterstützung bekamen sie von den rechtslastigen Zeitungen, die schon lange die EU für viele der hausgemachten Probleme des Landes verantwortlich gemacht haben. Trotzdem war die Forderung nach einem Brexit ein Randphänomen.

Das änderte sich jedoch, als im Februar 2016 der damals enorm populäre Johnson erklärte, er werde sich für den EU-Austritt einsetzen. Seine Beweggründe führte er in einem Artikel in der britischen Zeitung „Sunday Times“ aus. Später wurde jedoch bekannt, dass Johnson zwei Artikel geschrieben hat: Einen, in dem er sich für den EU-Austritt einsetzt, und einen zweiten, in dem er seine Argumente für einen Verbleib anführt. Offenbar hat er sich nur deswegen auf die Seite der Brexit-Unterstützer geschlagen, weil er sich davon den meisten Nutzen für seine politische Laufbahn versprach. Das zeigt: Noch nicht einmal der wohl wichtigste Architekt des Brexits hat an ihn geglaubt.

In den darauffolgenden Monaten wurde Johnson zum sympathischen öffentlichen Gesicht der zuvor eher verbissenen Kampagne für einen EU-Austritt. Und er versprach den Briten das Blaue vom Himmel: Der Brexit werde ein riesiger Erfolg werden! Die EU werde gar nicht anders können, als den Briten alles zu geben, was sie sich wünschten! Großbritannien werde wieder groß auf die Weltbühne zurückkehren! Es werde keine Nachteile geben, nur Vorzüge! Monatelang fuhren die Protagonisten der Vote-Leave-Kampagne in einem roten Bus durchs Land, an dem seitlich die Behauptung prangte, Großbritannien überweise der EU jede Woche 350 Millionen Pfund. „Lasst uns stattdessen unseren NHS unterstützen“, stand darunter – gemeint war das staatliche Gesundheitssystem.

Schnell wurde klar, dass diese Berechnung grundfalsch war. Das machte aber nichts. Johnson und die anderen tragischen Brexit-Vorkämpferinnen und Vorkämpfer hielten an ihrer Lüge fest.

Als Johnson am Morgen nach dem verhängnisvollen Referendum im Juni 2016 vor die Kameras trat, konnte man ihm ausnahmsweise so etwas wie Reue ansehen. Scheinbar hatte er gar nicht damit gerechnet, dass die Leave-Seite, die in Umfragen deutlich hinten lag, gewinnen würde. Johnson trug eine versteinerte Miene. Er las steif vom Blatt ab und vermied den Augenkontakt mit den Journalisten im Raum.

Der Rest ist Geschichte: Es folgte jahrelanges Verhandlungschaos. Die glücklose Premierministerin Theresa May stürzte über den wohl ernst gemeinten Versuch, die Widersprüche zwischen den Brexit-Lügen und der Wirklichkeit zu überbrücken. Der Brexit vergiftete die politische Kultur des Landes, spaltete die Gesellschaft und beschädigte die britische Wirtschaft nachhaltig.



Johnsons Reue vom Tag nach dem Referendum hielt nicht lange an. Er stolperte als weitgehend vergessbarer Außenminister durch die Welt. Nach Mays Sturz nutzte er den Brexit ein weiteres Mal – diesmal, um sich ins höchste Staatsamt zu hieven. Johnson versprach den Briten, den Brexit mit seinem „ofenfertigen“ und großartigen Deal mit der EU schnell unter Dach und Fach zu bringen. Die Brexit-müden Wählerinnen und Wähler ließen sich darauf ein und bescherten ihm einen gewaltigen Wahlerfolg. Kurz darauf unterzeichnete Johnson tatsächlich das Brexit-Abkommen mit der EU. Ein Ende mit Schrecken?

Tatsächlich wurde das Abkommen zu einem Ausgangspunkt für weitere Querelen. Denn der immense Gegensatz zwischen Brexit-Fantasie und Wirklichkeit wurde immer unübersehbarer. Die Lösung? Streit mit der EU anzetteln. Johnson warf Brüssel (weitgehend gegenstandslos) vor, das Nordirlandprotokoll zu streng auszulegen und die Region damit zu beschädigen. In Wirklichkeit sorgte der Umstand, dass Nordirland eng an den Binnenmarkt der EU angebunden blieb, dort für einen Boom. Egal. Johnson brachte einen Gesetzentwurf in Stellung, mit dem London das Protokoll einseitig brechen würde. Seine Abgeordneten stimmen mit überwältigender Mehrheit für den geplanten Bruch internationalen Rechts.

Unterdessen nahm die britische Wirtschaft wegen des extrem harten Brexits, den Johnson scheinbar halbherzig ausgehandelt hat, immer größeren Schaden. Johnson und seine Minister ignorierten die Brexit-Folgen und fantasierten immer neue Erfolgsmeldungen zurecht. Und das selbst dann noch, als der Schaden unübersehbar wurde.

Lügen, Partys und goldene Tapeten

Nicht nur beim Brexit nahm es Johnson mit den Regeln oder der Wahrheit nicht so genau. Ende des vergangenen Jahres wurde bekannt, dass Johnsons Mitarbeiter in der Downing Street zahlreiche Partys gefeiert haben, während der Rest des Landes im Lockdown saß und sich viele Briten per Videoanruf von sterbenden Angehörigen verabschieden mussten. Johnson log über die Partys, korrigierte seine Darstellung dann mehrfach und versuchte, den Skandal auszusitzen.

Johnson belog auch seinen eigenen Ethikberater, nachdem herausgekommen war, dass er sich die teure Renovierung seiner Dienstwohnung mit goldenen Tapeten von einem Parteispender bezahlen lassen hat. Der Berater trat daraufhin zurück. Johnson stellte sich auch schützend vor einen korrupten Tory-Abgeordneten, der Geld von Firmen entgegengenommen und sich anschließend innerhalb der Regierung für deren Interessen eingesetzt hat. Johnson versuchte sogar, die Regeln zu ändern, um Leuten wie dem überführten Abgeordneten Konsequenzen zu ersparen. Es kam zu einem öffentlichen Aufschrei. Der Abgeordnete musste zurücktreten.

Die Skandal-Chronik von Boris Johnson und seiner Regierung

Jedes Mal mussten sich am Morgen nach dem Bekanntwerden eines neuen Skandals Johnsons Minister vor die Medien begeben und Ausflüchte für das unentschuldbare Verhalten ihres Chef erfinden. Der Großteil der Minister und Tory-Abgeordneten hielt dennoch bis vor wenigen Tagen an ihrem Skandalpremier fest. Und das selbst dann noch, als es schon lange keine Ausflüchte gab, die Johnsons Verhalten hätten entschuldigen können. Sie alle haben sich im Interesse Johnsons besudelt.

Erst, als vor wenigen Tagen auch noch bekannt wurde, dass Johnson einen einflussreichen Regierungsposten mit einem Mann besetzt hat, von dem er wusste, dass gegen ihn zahlreiche Vorwürfe sexuellen Fehlverhaltens bestanden – erst dann kam es zum Dammbruch. Minister und Abgeordnete nutzten den Skandal als Rampe, um den skandalösesten britischen Regierungschef aller Zeiten zum Rücktritt zu zwingen.

Ein Grund zum Feiern ist das nicht. Denn Johnsons Rücktritt ist nur ein Anfang. Wird sich sich seine Nachfolgerin oder sein Nachfolger der Öffentlichkeit stellen und Johnsons Lügengebilde demontieren? Wird er oder sie reinen Tisch machen und den Briten ehrlich sagen, wie schädlich und problematisch der Brexit in seiner gegenwärtigen Form ist? Und wird er oder sie den verheerenden konfrontativen Kurs korrigieren, mit dem das Land sein internationales Ansehen beschädigt hat?

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Es besteht das reale Risiko, dass Johnsons Nachfolger vor dem großen Berg an Problemen kapitulieren werden, den er ihnen hinterlassen hat. Und sich ebenfalls in Unwahrheiten, Konfrontationen und einen kläglichen Nationalismus stürzen werden, um die Wählerinnen und Wähler, die rechtslastige Presse und die Parteispender bei Laune zu halten. Der immense Schaden, den Johnson an seinem Land, an den britischen Institutionen und innerhalb der britischen Gesellschaft angerichtet hat, würde sich dann sogar noch vergrößern.

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