Coronakrise Mehr Rechte für die Kommunen!

Mehr Rechte für Kommunen und Länder, das ist für Raghuram Rajan nötig, auch um Populismus Nährboden zu entziehen. Quelle: dpa

Wie sollte das Staatswesen in der Post-Corona-Ära organisiert werden? In einem Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche fordert der US-Ökonom Raghuram Rajan eine Dezentralisierung – auch um Populismus Nährboden zu entziehen.

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Raghuram Rajan ist Professor für Finanzwirtschaft an der Booth School of Business der University of Chicago. Zuvor war er unter anderem Gouverneur der indischen Notenbank.

Trotz der noch immer grassierenden COVID-19-Pandemie wird bereits darüber spekuliert, wie die Gesellschaft danach aussehen wird. Schockiert von der Tatsache, wie schnell ihr Leben auf den Kopf gestellt werden kann, dürften die Menschen möglichst viele Risiken reduzieren wollen. Sie werden daher mehr staatliche Interventionen befürworten, sei es zur Ankurbelung der Nachfrage durch billionenschwere Konjunkturprogramme, sei es zum Schutz der Arbeitnehmer, zur Ausweitung der Krankheitsversicherung oder zur Bekämpfung des Klimawandels.

Doch wie sollte der politische Prozess künftig organisiert werden? Jedes Land hat mehrere politische Entscheidungsebenen, und es stellt sich die Frage, wie man Kompetenzen am sinnvollsten verteilt. In den USA verfügt nur die Bundesregierung über die Ressourcen und das Mandat für landesweite Entscheidungen zu Themen wie Krankenversicherung und Klimawandel. Doch folgt daraus nicht zwangsläufig, dass diese Regierungsebene weiter gestärkt werden sollte.
Die Grundfrage lautet: mehr zentrale oder mehr dezentrale Entscheidungen? Im Falle von COVID-19 haben einige Länder die Entscheidungen darüber, wann Kontaktsperren verhängt und wieder gelockert werden, zentralisiert. Andere haben dies den Bundesländern/Provinzen oder sogar den Kommunen überlassen. Wieder andere, etwa Indien, befinden sich im Übergang zwischen diesen Ansätzen.

Im bevölkerungsreichen New York war eine strenge Kontaktsperre womöglich der einzige Weg, um die Leute von den Straßen zu bekommen. Die wirtschaftlichen Folgen wurden möglicherweise dadurch abgemildert, dass dort viele Menschen in qualifizierten Dienstleistungsberufen, etwa in der Finanzwirtschaft, tätig sind, die sich auch aus dem Home Office ausüben lassen.

Im Gegensatz dazu kennt in Farmington, New Mexico, laut einem Bericht der New York Times „kaum einer jemanden, der am Coronavirus erkrankt ist, aber fast jeder kennt jemanden, der dadurch seine Arbeit verloren hat“. Die vom Gouverneur des Staates verhängte Kontaktsperre ist folglich unpopulär in einer Gemeinschaft, die schon vor der Pandemie im ernsten wirtschaftlichen Niedergang begriffen war. In diesem Fall überwiegen die wirtschaftlichen Bedenken die eher geringfügigen gesundheitlichen Sorgen.

Diese Unterschiede zeigen die Nachteile eines zentralisierten, undifferenzierten Ansatzes. Doch kann Dezentralisierung ebenfalls problematisch sein. Wenn Regionen das Virus in unterschiedlichen Grad eingedämmt haben, sind Reisen zwischen ihnen dann weiterhin möglich? Vermutlich würden die sichereren Regionen Besucher aus potenziellen Infektionsschwerpunkten nicht hereinlassen wollen – oder sie zumindest einer lang andauernden Quarantäne unterwerfen.

Ein gewisses Maß an Harmonisierung zwischen den Regionen kann daher nützlich sein, nicht zuletzt bei der Beschaffung medizinischer Versorgungsgüter. Angesichts fehlender Koordination durch die US-Bundesregierung haben sich die Einzelstaaten einen Bieterwettkampf um knappe medizinische Lieferungen aus China geliefert. In normalen Zeiten würden wettbewerbsbestimmte Märkte derartige Waren am effizientesten zuteilen. Doch in einem gesundheitlichen Notstand funktionieren die Märkte nicht immer richtig, und die Warenverteilung erfolgt dann nach Zahlungsfähigkeit der Käufer statt nach Bedürftigkeit. Reiche Staaten kaufen dann alle Beatmungsgeräte und Testsets auf, und für die ärmeren Staaten bleibt nichts übrig. In einem solchen Fall leidet die Fähigkeit des Landes zur Eindämmung der Pandemie.

In dieser Situation könnte ein zentralisiertes Beschaffungswesen die Preise niedriger halten und potenziell eine bedarfsgerechtere Verteilung ermöglichen. Doch die Betonung liegt auf „könnte“ und „potenziell“. Hegt eine Zentralregierung fragwürdige Motive oder ist sie schlicht inkompetent, ändert sich die Bewertung. Wie in Brasilien, Mexiko, Tansania und den USA gesehen, können Regierungschefs, die Gefahren der Pandemie herunterspielen, ihren Ländern beträchtlichen Schaden zufügen.

Dafür nur ein paar Beispiele: Die brasilianische Bundesregierung scheint Schwierigkeiten bei der Verteilung der von ihr gekauften Beatmungsgeräte gehabt zu haben. In den USA hatten von den Republikanern regierte Staaten angeblich leichteren Zugriff auf wichtige medizinische Güter als Staaten, in denen Demokraten regieren. Und in Indien verhängte die Zentralregierung eine strikte Ausgangssperre, ohne die nötigen Vorkehrungen für Millionen von Wanderarbeitern zu treffen, die deshalb zur Flucht aus den Städten zurück in ihre Heimatdörfer gezwungen waren. Familien mit Kindern marschierten Hunderte von Kilometern, unterstützt nur durch mitfühlende Fremde und kommunale Behörden; dabei verbreiteten sie potenziell das Virus im Land.

Ein dezentraler Entscheidungsprozess hätte es indischen Staaten, die (weil sie zunächst weniger Fälle aufwiesen) später Ausgangssperren verhängt hätten, eventuell ermöglicht, sich bei denen, die derartige Sperren zuerst verhängten, bewährte Verfahren abzuschauen.
Da sowohl extreme Zentralisierung als auch extreme Dezentralisierung problematisch sein können, bietet sich ein koordinierter Mittelweg an. Die Bundesregierung könnte Mindeststandards für Kontaktsperren und deren Lockerung festlegen und zugleich die konkrete Entscheidung den Bundesländern/Provinzen und Kommunen überlassen.

Für eine sorgsam gesteuerte Dezentralisierung gibt es wichtige Gründe. Getreu dem Subsidiaritätsprinzip sollten Befugnisse der niedrigstmöglichen Verwaltungsebene zufallen, die wirksam handeln kann. Nicht nur stehen die Mitglieder kleinerer politischer Einheiten tendenziell vor ähnlichen Problemen. Sie zeigen zudem in der Regel größere soziale und politische Solidarität, was es für sie einfacher macht, miteinander ins Gespräch zu kommen und Lösungen zu finden. Die Lokalpolitik leidet sie im Allgemeinen weniger unter Blockaden und Feindseligkeit, wie man sie heutzutage in den Zentralparlamenten vorfindet. Die Menschen fühlen sich stärker an Entscheidungen gebunden, wenn diese von ihren vor Ort gewählten oder ernannten Gremien getroffen wurden.

Wenn es darum geht, den Wiederaufbau nach der Krise zu unterstützen und die postpandemischen Gesundheits-, Bildungs- und Aufsichtssysteme zu stärken, müssen wir daher darüber nachdenken, wer die Entscheidungen trifft und wo sie fallen. Ich halte es zum Beispiel für sinnvoll, dass ein erheblicher Anteil der Konjunkturausgaben in Form von Globalzuschüssen an die Kommunen erfolgt, da diese am besten in der Lage sind, Gelder bedarfsgerecht zu verteilen.

Hinzu kommt eine politisch-demokratische Dimension: Die weltweite Zunahme des Autoritarismus spiegelt eine weitverbreitete Sehnsucht nach charismatischen politischen Führern wider, mit denen sich Normalbürger identifizieren können. Derartige Demagogen haben ihre Unterstützung aus der Bevölkerung in der Vergangenheit genutzt, um sich einer von der Verfassung vorgesehenen Kontrolle zu entziehen.

Eine Ausweitung der staatlichen Rolle unter gleichzeitiger Begrenzung des Autoritarismus-Risikos erfordert unabhängige staatliche Einrichtungen mit eigenen Machtbefugnissen, die ebenfalls die Unterstützung der Bevölkerung genießen. Eine Dezentralisierung, bei der Regionalregierungen und Kommunen im Rahmen der Verfassung mehr Befugnisse erhalten, könnte ein wichtiger Weg voran sein.

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