Seit Monaten hagelt es von der Preisfront schlechte Nachrichten für die Verbraucher. Die Kosten der Lebenshaltung steigen und steigen. Im Oktober lag die Teuerungsrate bei 10,4 Prozent, so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Doch nun scheint es, als ob der Reigen an schlechten Nachrichten abreißen könnte. Die Erzeugerpreise, die den Verbraucherpreisen zeitlich vorauslaufen, sind im Oktober zum ersten Mal seit Mai 2020 gegenüber dem Vormonat gesunken, und zwar um 4,2 Prozent. Damit lagen sie zwar noch um 34,5 Prozent höher als im Oktober vergangenen Jahres. Im August und September hatte die Zuwachsrate im Vorjahresvergleich jedoch noch bei 45,8 Prozent gelegen.
Entscheidend für den jüngsten Preisrückgang waren die Energiepreise. Gegenüber dem Vormonat fielen sie im Schnitt um 10,4 Prozent. Vor allem Strom und Erdgas verbilligten sich. Ist die Inflation also auf dem Rückzug, die Rückkehr zur Preisstabilität in Sicht?
Ralph Solveen, Ökonom bei der Commerzbank, erwartet für November immerhin einen leichten Rückgang der Inflationsrate auch auf der Verbraucherstufe. Ebenso wie bei den Erzeugerpreisen werde dieser hauptsächlich durch niedrigere Energiepreise getrieben, allen voran von den gesunkenen Benzinpreisen. Im Dezember werde die Teuerungsrate dann wieder etwas anziehen und vermutlich das Niveau vom Oktober erreichen. Das sei dann der Höhepunkt im aktuellen Inflationszyklus. „Im nächsten Jahr wird die Inflationsrate allmählich fallen und sich bis Ende des Jahres in etwa halbieren“, sagt Solveen.
Die Frachtraten sinken
Das Abflauen der Inflation hat vor allem rechentechnische Gründe. Der Überfall Russlands auf die Ukraine Anfang dieses Jahres hat die Energiepreise und mit ihnen den Verbraucherpreisindex in die Höhe getrieben. Anfang nächsten Jahres, wenn sich der Überfall jährt, drücken die hohen Vorjahreswerte für den Preisindex die Zuwachsraten nach unten. Dazu kommt, dass die von der Bundesregierung beschlossene Gas- und Strompreisbremse die Belastung der Verbraucher mildert. Ob und in welchem Ausmaß dies in den offiziellen Verbraucherpreisindex eingeht, hängt von der konkreten Ausgestaltung der Entlastung ab.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Gedämpft wird die Inflationsrate zudem durch die weltwirtschaftliche Entwicklung. Die sich abzeichnende Rezession in den großen Industrieländern hat die Nachfrage nach Rohstoffen gebremst. Die Preise für Aluminium, Kupfer, Stahl und Holz befinden sich seit Monaten auf Talfahrt. Ebenso die Preise für Speicherchips. Zudem scheinen die Lieferketten wieder etwas besser zu funktionieren. Im Oktober klagten den Umfragen des Münchner Ifo-Instituts zufolge 63,8 Prozent der Industriebetriebe über Engpässe bei der Versorgung mit Vorprodukten und Material. Im September waren es noch 65,8 Prozent gewesen.
Die Entspannung bei den Lieferketten spiegelt sich in den globalen Frachtraten wider. Die Preise für den Transport auf dem Seeweg liegen aktuell nur noch bei etwa einem Drittel ihres Niveaus vom Sommer 2021, als sie ihren Höhepunkt erreicht hatten. Gleichwohl ist der Seetransport noch immer teurer als vor dem Ausbruch der Pandemie.
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Nils Jannsen, Konjunkturforscher am Institut für Weltwirtschaft in Kiel, erwartet, „dass der Gipfel bei der Inflation bald erreicht ist“. Aufatmen können die Verbraucher deshalb aber nicht. Denn die Preise werden weiter steigen. Und das schneller als vor Ausbruch der Corona-Pandemie. „Es ist noch viel Inflationsdruck in der Pipeline“, sagt Hans-Werner Sinn, der ehemalige Chef des ifo-Instituts. Der Kostenschub, dem die Betriebe seit Monaten ausgesetzt sind, werde erst nach und nach in den Preisen an die Verbraucher weitergegeben.
Klimaschutz und Demografie treiben die Preise
Tatsächlich sind die Erzeugerpreise ohne die Berücksichtigung von Energieprodukten im Oktober gegenüber dem Vormonat um 0,4 Prozent gestiegen. Der Preisindex für die Teilkomponente der Verbrauchsgüter legte sogar um 1,1 Prozent zu. Nahrungsmittel verteuerten sich um 0,9 Prozent. Der Rückgang der Erzeugerpreise sei daher „nur ein kleiner Lichtblick“, sagt Christoph Swonke, Konjunkturexperte der DZ Bank. Ein Ende der Inflation lasse sich daraus nicht ableiten.
Ähnlich sieht dies Commerzbanker Solveen. Trotz der leichten Entspannung bei den Erzeugerpreisen sei „das Inflationsproblem noch lange nicht überwunden“, glaubt er. Der unterliegende Preisdruck werde die Inflationsrate auf lange Sicht über dem Zwei-Prozent-Ziel der EZB halten. Das hat mehrere Gründe. So drücken die jüngsten Lohnabschlüsse auf die Gewinnmargen der Unternehmen. Die Betriebe dürfte daher verstärkt versuchen, ihre Preise anzuheben. Weil die Generation der Babyboomer in den nächsten Jahren in Rente geht, werden sich Arbeitskräfte weiter verknappen. Das dürfte die Löhne nachhaltig treiben.
Die geoökonomischen Abkoppelungstendenzen und der vermehrte Einsatz von protektionistischen Instrumenten wie Zöllen und Exportverboten verteuern zudem den Welthandel und damit auch die Importe nach Europa. Dazu kommen die preistreibenden Effekte der klimapolitisch motivierten Steuern auf fossile Energieträger. Darüber hinaus ist die Geldpolitik der Zentralbanken noch immer extrem locker. Sowohl in den USA als auch in Europa liegen die Leitzinsen nach Abzug der Inflationsrate weiterhin tief im negativen Bereich.
Zudem befindet sich nach wie vor zu viel Geld im Umlauf. „In Europa liegt die Geldmenge M3 um rund 20 Prozent höher als dies zur Finanzierung der wachsenden Güterproduktion bei stabilen Preisen erforderlich ist“, sagt Thorsten Polleit, Chefökonom der Degussa. Zudem wächst die Geldmenge weiter mit Raten von rund sechs Prozent. „Das Potenzial für weiterhin sehr hohe Preissteigerungen ist daher groß“, warnt Polleit. Trotz aller verbalen Zusicherungen der Notenbanker, die Inflation entschlossen zu bekämpfen, kann von einer harten Anti-Inflationspolitik daher bisher keine Rede sein.
Hans-Werner Sinn ist darob nicht verwundert. Regierungen und Notenbanken betrachteten die Inflation als Möglichkeit, die enorme Schuldenlast der Staaten real abzuschmelzen, sagt er. „Das ist die heimliche Agenda, die viele im Hinterkopf haben, dass man das Schuldenproblem durch eine Inflation löst“. Nur sage das keiner offen. Für die Verbraucher heißt das: der Strom an schlechten Nachrichten von der Preisfront dürfte so schnell nicht abreißen.
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