Weltwirtschaft Die drei geopolitischen Bedrohungen des Westens

Russlands Präsident Wladimir Putin und US-Präsident Joe Biden Quelle: AP

Das Jahr 2022 wird uns in Atem halten. Die Welt muss nicht nur gegen Corona, Inflation und Schuldenberge kämpfen. Zu einem immer unkalkulierbareren Risiko entwickelt sich auch die Geopolitik, schreibt US-Ökonom Nouriel Roubini in einem Gastbeitrag.

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Nouriel Roubini ist Professor an der zur New York University gehörenden Stern School of Business und CEO des Beratungsunternehmens Roubini Macro Associates.

Keine Frage: Trotz aller Risiken und der Belastungen durch neue Covid-19-Varianten war 2021 ökonomisch in den meisten Teilen der Welt ein relativ positives Jahr. Nach der schweren Rezession 2020 legte das Wachstum wieder zu. Die Finanzmärkte erholten sich kräftig, vor allem in den USA, wo die Aktienmärkte neue Höchststände erreichten. Doch 2022 könnte schwieriger werden – und dies aus mehreren Gründen.

Zunächst einmal ist die Pandemie noch lange nicht vorbei. Omikron mag für weniger heftige Krankheitsverläufe sorgen als frühere Virusvarianten, insbesondere in entwickelten Volkswirtschaften mit hoher Durchimpfungsrate. Gleichwohl dürfte die Hospitalisierung und die Zahl der Todesfälle hoch bleiben. Diese Unsicherheit wird die Nachfrage dämpfen und Lieferengpässe verschärfen.

Hinzu kommen die steigende Inflation und eine massiven Anhäufung privater und öffentlicher Schulden. Dadurch sind die Märkte möglicherweise nicht in der Lage, höhere Kreditkosten zu verkraften.

Vor allem aber bringt das neue Jahr zunehmende geopolitische und systemische Risiken mit sich. Der Westen sieht sich mit drei wesentliche Bedrohungen konfrontiert. Erstens: Russland bereitet offenkundig eine Invasion der Ukraine vor und es bleibt abzuwarten, ob die Verhandlungen über ein neues regionales Sicherheitsregime eine Eskalation verhindern können. US-Präsident Joe Biden hat zwar mehr Militärhilfe für die Ukraine versprochen und schärfere Sanktionen gegen Russland angedroht. Er hat aber auch deutlich gemacht, dass die USA nicht direkt eingreifen werden, um die Ukraine bei einem Angriff zu unterstützen.

Zudem präsentiert sich die russische Wirtschaft inzwischen widerstandsfähiger gegen Sanktionen als in der Vergangenheit, so dass sich der russische Präsident Wladimir Putin sich von Drohungen möglicherweise ohnehin nicht abschrecken lässt. Zumal manche der angedachten Sanktionen des Westens – etwa eine Blockade der Nord Stream 2-Gaspipeline – Europas eigene Energieknappheit noch verschärfen würde. (Lesen Sie dazu auch: Das deutsche Energiedilemma)

Doch es geht nicht nur um Russland. Auch der Kalte Krieg zwischen China und Amerika wird noch kälter. China erhöht derzeit den militärischen Druck auf Taiwan und im Südchinesischen Meer (wo zahlreiche Territorialstreitigkeiten schwelen). Die Entkopplung zwischen der chinesischen und der amerikanischen Wirtschaft beschleunigt sich – ein Prozess, der im Laufe der Zeit stagflationäre Folgen haben könnte. 

Drittens schließlich steht Iran an der Schwelle zum Atommacht. Dem Land ist es gelungen, Uran auf fast waffenfähiges Niveau anzureichern. Trotzdem sind die Verhandlungen über ein neues oder überarbeitetes Atomabkommen bisher ergebnislos geblieben. Israel erwägt bereits offen Militärschläge gegen iranische Atomanlagen. Sollte das so kommen, wären die stagflationären Folgen womöglich noch schlimmer als während der Ölpreiskrisen 1973 und 1979.



Die geopolitischen Konfliktherde werden von großen systemischen Risiken begleitet. 2021 traten die Folgen des Klimawandels – Hitzewellen, Waldbrände, Dürren, Wirbelstürme, Überschwemmungen, Taifune – deutlich zutage. Auf dem Klimagipfel in Glasgow gab es vorwiegend Lippenbekenntnisse, weswegen die Welt nun Gefahr läuft, noch in diesem Jahrhundert eine verheerende Erwärmung um drei Grad zu erleiden. Schon jetzt treiben Dürreperioden die Lebensmittelpreise in gefährliche Höhen. Die Auswirkungen des Klimawandels werden sich weiter verschärfen – und die Flüchtlingsströme in Richtung USA, Europa und anderer Industrieländer ansteigen.

Vor diesem Hintergrund nimmt auch die politische Dysfunktionalität sowohl in Industrie- als auch in Schwellenländern zu. Die Zwischenwahlen in den USA etwa könnten einen Vorgeschmack bieten auf jene ausgewachsene Verfassungskrise (wenn nicht gar unverhohlene Gewalt), die den US-Präsidentschaftswahlen 2024 zu folgen droht. Die USA erleben ein beispielloses Ausmaß an parteipolitischer Polarisierung, Blockade und Radikalisierung. (Die größte Gefahr für die Demokratie sitzt in Washington. Lesen Sie hier die Analyse unseres Kolumnisten Alexander Görlach.)

Populistische Parteien von Rechts- und Linksaußen gewinnen weltweit an Zuspruch, sogar in Regionen wie Lateinamerika, wo der Populismus auf eine katastrophale Geschichte zurückblickt. In Peru und Chile kamen 2021 radikal linke Präsidenten an die Macht, in Brasilien und Kolumbien könnte 2022 Ähnliches eintreten. Argentinien und Venezuela marschieren derweil weiter in Richtung finanzieller Ruin. Steigende Zinsen der US-Notenbank Fed und andere großer Zentralbanken könnten in Schwellenländern wie der Türkei und dem Libanon zu Finanzschocks führen, ganz zu schweigen von den zahlreichen Entwicklungsländern, deren Verschuldungsgrad schon jetzt nicht mehr tragbar ist. (Erfahren Sie hier, wie Präsident Erdogan die Türkei in die Währungskrise getrieben hat.)

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Was auch immer kommen mag: Wir werden wohl den größten Teil des Jahres 2022 in Atem gehalten werden.

Copyright: Project Syndicate 2021

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