Wirtschaftsgeschichte Kommt jetzt die Große Inflation wie in den Siebzigerjahren?

Hohe Lohnabschlüsse, rasant steigende Ölpreise und eine lockere Geldpolitik ließen die Inflationsraten in den Siebzigerjahren kräftig steigen. Im öffentlichen Dienst setzte Gewerkschaftsführer Heinz Kluncker (Mitte) 1974 eine Lohnerhöhung von 11 Prozent durch. Damit leitete er eine Lohn-Preis-Spirale und das Ende der Vollbeschäftigung in Deutschland ein. Quelle: dpa Picture-Alliance

Weltweit steigen die Preise. Noch hoffen die Zentralbanken, die Inflation im Griff zu haben. Doch das könnte sich als Trugschluss erweisen, wie ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt.

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Kommt sie oder kommt sie nicht? Kaum etwas bewegt die Börsen und die Analystengemeinde derzeit mehr als die Frage nach der Zukunft der Inflation. Im Mai haben sich die Kosten der Lebenshaltung für die Verbraucher in Deutschland um 2,5 Prozent erhöht. In den USA fiel die Inflationsrate mit fünf Prozent sogar doppelt so hoch aus. Nach der Europäischen Zentralbank (EZB) hat am Mittwoch auch die amerikanische Notenbank Fed ihre Inflationserwartungen nach oben geschraubt – und die Märkte auf eine mögliche Zinserhöhung, allerdings erst in zwei Jahren, eingestimmt. 

Plötzlich also ist sie da, die Inflation. Die Frage ist nur: Handelt es sich bei dem Preisschub lediglich um ein kurzes Intermezzo, wie die EZB und die Fed glauben? Oder steht die Welt vor einer ökonomischen Zeitenwende, einem inflationären Zeitalter? 

Die Zunft der Konjunkturauguren ist gespalten. Die Mehrheit betrachtet den aktuellen Preisschub ebenso wie die Zentralbanken als ein vorübergehendes Phänomen, das vor allem auf Sonderfaktoren wie dem kräftigen Ölpreisanstieg, den globalen Lieferengpässen in der Industrie und dem plötzlichen Konsumschub nach dem Ende des Lockdowns beruht. Für einen dauerhaften Anstieg des Preisniveaus, so der Tenor, sei die Lage am Arbeitsmarkt zu schlecht. Die hohe Arbeitslosigkeit bremse den Lohnanstieg und verhindere so eine Lohn-Preisspirale, die für einen dauerhaften Anstieg des Preisniveaus entscheidend sei. 

Konjunkturauguren uneinig 

Dagegen wähnt eine Minderheit der Konjunkturbeobachter die Weltwirtschaft am Beginn einer langen inflationären Phase. Die Vertreter dieser Gruppe verweisen auf die extrem lockere Geldpolitik der Notenbanken, die sich angesichts der hohen Staatsschulden auch in den nächsten Jahren fortsetzen werde. Sie fürchten, der jüngste Preisschub könne die Inflationserwartungen von Bürgern und Unternehmern aus ihrer Verankerung reißen. Das hätte nachhaltige Folgen für die Lohn- und Preisverhandlungen, bei denen dann ein Ausgleich für die künftig erwartete höhere Inflation angestrebt werde. 

Die Löhne und mit ihnen die Preise könnten deshalb trotz hoher Arbeitslosigkeit steigen, zumal die Gewerkschaften nicht die Interessen der Arbeitslosen, sondern die der Beschäftigten vertreten. Und die verlangen nach einem Kaufkraftausgleich. Die demografisch bedingte Verknappung von Arbeitskräften werde die Löhne zusätzlich nach oben treiben und den inflationären Prozess beschleunigen. 

Wer hat Recht? Mit absoluter Sicherheit lässt sich das nicht sagen. Denn die Ökonomik ist keine Naturwissenschaft und das Verhalten der Menschen nicht mathematisch berechenbar. Ein Blick in die jüngere Geschichte kann jedoch helfen, die aktuelle Entwicklung mit historischen Erfahrungen zu vergleichen. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang das Zusammenwirken von Lohn- und Geldpolitik auf die Inflation. 

Die Geldschwemme der Siebzigerjahre 

Besonders lehrreich sind die Siebzigerjahre, das Jahrzehnt der Großen Inflation. Seinen Ausgangspunkt nahm der inflationäre Prozess in Amerika schon in den 1960er Jahren. Die vom damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson unter dem Schlagwort der „Great Society“ voran getriebenen umfangreichen Sozialprogramme sowie der Vietnamkrieg hatten den US-Bundeshaushalt in die roten Zahlen getrieben. Um die Finanzierungskosten der US-Regierung nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, kaufte die Fed, ähnlich wie heute, in großem Umfang Anleihen des Staates und finanzierte so den Staatshaushalt mit der Notenpresse. 

Dadurch floss viel Geld in die Wirtschaft. Die Geldmenge M2 (Bargeld, Sicht-, Spar- und Termineinlagen) expandierte in den 1960er Jahren um etwa acht Prozent jährlich, rund doppelt so schnell wie die Gütermenge, die die US-Wirtschaft bei normaler Auslastung ihrer Kapazitäten erzeugen konnte. Der Geldüberhang entlud sich in steigenden Preisen. Ende der Sechzigerjahre lag die Inflationsrate bereits bei fünf Prozent. 



Die Geldflut setzte den Wechselkurs des Dollar unter Druck und trieb die Anleger aus der US-Währung in die D-Mark. In dem damaligen Festkurssystem musste die Bundesbank die hereinströmenden Dollar gegen D-Mark tauschen, um den Wechselkurs zu stabilisieren. Der dadurch erhöhte Liquiditätszufluss trieb die Inflation in Deutschland in die Höhe. Die Teuerungsrate kletterte von 1,6 Prozent im Jahr 1968 auf 5,4 Prozent 1972.  

Lohnschub durch die Kluncker-Runde 

Im Oktober 1973 brach dann der Jom-Kippur-Krieg aus. Die Ölstaaten drehten dem Westen den Ölhahn zu, der Ölpreis vervierfachte sich. Die Inflation kletterte 1973 auf 7,1 Prozent. Anfang 1974 kratzte sie sogar an der Marke von 10 Prozent. Die Gewerkschaften forderten daraufhin zweistellige Lohnzuwächse, um die Arbeitnehmer vor Kaufkraftverlusten zu schützen. Die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes ÖTV (heute Verdi) erstritt unter der Führung von Heinz Kluncker nach dreitägigem Streik der Müllabfuhr und der Straßenbahner eine Lohnerhöhung von 11 Prozent. 

Die als Kluncker-Runde in die Tarifgeschichte eingegangene Lohn-Bonanza markierte nicht nur das Ende der Vollbeschäftigung in Deutschland, sie löste auch eine Lohn-Preis-Spirale aus, die die Inflation weiter antrieb. Die Bundesbank sah sich daraufhin gezwungen, kräftig auf die geldpolitische Bremse zu treten. Der Diskontsatz, der im Spätsommer 1972 noch bei 3,0 Prozent gelegen hatte, stieg binnen weniger Monate auf 7,0 Prozent. Auf diesem Niveau verharrte er bis zum Herbst 1974. 

Der Konflikt zwischen Lohn- und Geldpolitik stürzte die deutsche Wirtschaft in die Rezession. Das reale Bruttoinlandsprodukt schrumpfte im Jahresdurchschnitt 1975 um 0,9 Prozent. Es war der bis dahin stärkste Wirtschaftseinbruch der Nachkriegszeit.  Die Zahl der registrierten Arbeitslosen sprang von knapp 150.000 im Jahr 1970 auf über eine Million 1975, die Arbeitslosenquote erhöhte sich von 0,7 auf 4,7 Prozent.  

Neunzigerjahre: Preisschub durch Wiedervereinigung 

Anfang der 1990er Jahren gab es nach dem zweiten Golfkrieg noch einmal einen kräftigen Inflationsschub in Deutschland: 1992 erreicht die jährliche Teuerungsrate 5,1 Prozent. Auch in den Jahren 1991 und 1993 lag der Preisanstieg mit 3,7 Prozent und 4,4 Prozent deutlich über dem heute von der EZB mittelfristig anvisierten Inflationsziel von „unter, aber nahe zwei Prozent“. 

Der Grund: Direkt nach dem Mauerfall entfaltete sich im Osten Deutschlands ein Konsumrausch, der durch eine überreichliche Geldversorgung im Zuge der Umstellung von Ostmark auf D-Mark und durch hohe Lohnsteigerungen getragen wurde.  

So wurden die Löhne und Gehälter in Ostdeutschland im Verhältnis 1:1 auf D-Markt umgestellt.  Für Sparguthaben und Kredite galt ein Tauschverhältnis von 2:1. Die Bundesbank karrte 600 Tonnen Banknoten und 400 Tonnen Münzgeld aus dem Westen in die neuen Bundesländer. Am Ende war die Geldmenge in der DDR nach der Umstellung um etwa die Hälfte höher als von der Bundesbank in einer Studie vorab vorgeschlagen. Die Preise für Lebensmittel verdreifachten sich, günstige Ostprodukte verschwanden aus den Lebensmittelläden, weil die Kunden nur noch Westware kaufen wollten. 

Zu hohe Lohnabschlüsse in Ostdeutschland 

Beschleunigt wurde der Preisauftrieb durch die rasanten Lohnsteigerungen in Ostdeutschland. Nicht nur, dass die Löhne im Verhältnis 1:1 von Ostmark auf D-Markt umgestellt wurden, wodurch das Lohnniveau auf einen Schlag ein Drittel des Westniveaus erreichte. Weil die ostdeutschen Unternehmen noch lange nach der Einführung der D-Mark überwiegend ohne private Eigentümer operierten, gab es kaum Widerstand gegen die von Seiten der Gewerkschaften geforderten kräftigen Lohnerhöhungen. Zwar waren die ehemaligen DDR-Betriebe rechtlich in die Treuhandanstalt eingegliedert. Als Quasi-Eigentümerin war diese allerdings nur für den Verlustausgleich zuständig, nie aber auf der Arbeitgeberseite an Tarifverhandlungen beteiligt. 

So kam es zu Lohnabschlüssen, die den Produktivitätszuwachs der Betriebe weit überschritten. Erst nachdem die Bundesbank die Geldpolitik gestrafft, den Diskontsatz auf 8,75 Prozent hochgezogen, der Lohn-Preis-Spirale die monetäre Alimentierung entzogen und die Wirtschaft dadurch in eine Stabilisierungsrezession gezwungen hatte, beruhigte sich die Lage an der Preisfront. Mitte der Neunzigerjahre lag die Inflationsrate wieder unter der Marke von zwei Prozent.  

Notenbanken im Dienst der Regierungen 

Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, so sind Ähnlichkeiten zwischen der Entwicklung damals und heute nicht von der Hand zu weisen. Ebenso wie in den 1970er Jahren kooperieren die Zentralbanken heute mit den Regierungen. Damals liefen die Staatsschulden wegen des Vietnam-Kriegs und des Ausbaus des Sozialstaats in Amerika aus dem Ruder. In den 1990er Jahren war es die Wiedervereinigung in Deutschland, die die Defizite in die Höhe trieb. Heute sind es die Corona-Pandemie und die riesigen Infrastruktur- sowie Konjunkturprogramme, die die Staatshaushalte dies- und jenseits des Atlantiks immer tiefer in die roten Zahlen treiben.  

Ebenso wie in den 1970er Jahren die Fed finanzieren die Notenbanken heute die finanziellen Exzesse der Regierungen mit der Notenpresse. Der monetäre Überhang, den sie geschaffen haben, droht sich in den nächsten Jahren in höherer Inflation zu entladen. 

Die Kluncker-Runde und die kräftigen Lohnsteigerungen nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland zeigen, dass die Gewerkschaften auch in Zeiten höherer Arbeitslosigkeit in der Lage sind, kräftige Lohnzuwächse durchzusetzen, die in eine Lohn-Preis-Spirale münden können.  So hatte sich die Arbeitslosigkeit zwischen 1970 und dem Beginn der Kluncker-Runde bereits verdoppelt. Trotzdem gelang es der ÖTV, mit einem Lohnplus von 11 Prozent die Inflationsrate zu toppen.  

Die Macht der Gewerkschaften ist in Europa - vor allem im öffentlichen Dienst - noch immer stark ausgeprägt. Im September stehen in Deutschland die Tarifverhandlungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Länder an. Das Ergebnis könnte Signalwirkung für die Privatwirtschaft entfalten. Sollten sich zu den weiter steigenden Inflationsraten kräftige Lohnerhöhungen gesellen, ist eine Lohn-Preis-Spirale nicht mehr auszuschließen. 

Regierungen und Zentralbanken in der Schuldenfalle 

Einen gewichtigen Unterschied zu den Siebziger- und Neunzigerjahren gibt es allerdings. Damals waren die Notenbanken willens und in der Lage, die Inflationswelle mit einem energischen Tritt auf die geldpolitische Bremse zu brechen. Heute hingegen sind die Staaten dies- und jenseits des Atlantiks derart hoch verschuldet, dass sie bei höheren Zinsen schnurstracks in den Bankrott zu segeln drohen. Das gilt vor allem für die Länder im Süden der Eurozone. Sollte sich eine Lohn-Preis-Spirale abzeichnen, ist es daher fraglich, ob die Notenbanken ihr ebenso entschieden entgegen treten wie damals. 

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Dabei dürfte die Fed grundsätzlich mehr Spielraum als die EZB besitzen, um die Zinsschraube anzuziehen. Denn die EZB sieht sich in der Pflicht, die dysfunktionale Währungsunion mit all den hoffnungslos überschuldeten Ländern zusammenzuhalten, koste es was es wolle. Das nimmt ihr den Spielraum, die Geldpolitik zu straffen und die Inflation zu bekämpfen. Für die Sparer in Europa sind das keine guten Aussichten. 

Mehr zum Thema: Die großen Notenbanken schicken sich an, mit den Instrumenten der Geldpolitik die politisch angesagten Ziele unserer Zeit zu unterstützen. Damit aber überfordern sie sich – und die Wirtschaft.

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