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Schwitzen vor der Webcam: Diese beiden Amerikaner halten ihre Yogakurse während der Ausgangsbeschränkungen online ab. Quelle: AP

Überall ist Turnhalle

Trotz der allmählichen Lockerungen im Corona-Shutdown droht der Fitnessbranche derzeit eine Pleitewelle. Jetzt will die Branche ihre Rettung im Netz finden.

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Ich blicke in meinen Computer und summe „Oooohm“– zusammen mit einem Dutzend anderer Frauen. Unsere Yoga-Lehrerin Kirstie unterrichtet uns neuerdings über Zoom. Damit sind wir nicht allein. Im Zuge der Coronakrise mussten alle Fitness-Studios ihre Pforten schließen. Viele behelfen sich nun mit einem neuen Angebot an Onlinekursen via Facebook, Instagram oder eben Zoom. Seit dem 15. März hat die Anzahl der Heimtrainings weltweit um mehr als 200 Prozent zugenommen. Getreu dem Motto „Workout. Anytime. Anywhere.“ findet sich Platz in der kleinsten Hütte. Zur Not im eigenen Schlafzimmer. Überall ist Turnhalle.

Hollywood macht den globalen Vorturner. Berühmtheiten und lokale Sternchen kämpfen um unseren Schweiß. Tracy Anderson, Fitnesstrainerin von Gwyneth Paltrow und anderer Celebrities, bietet virtuelle Personal Training Sessions an. Tänzer und Choreograph Ryan Heffington begrüßt mehrmals wöchentlich Tausende von Fans zum SweatFest, einem einstündigen Tanz-Workout auf Instagram. Auch die deutsche TUI-Tochter Robinson verlegt coronabedingt ihre Wellfit-Clubs ins Netz. In Ton und Machart noch etwas altbacken, aber die Lösung des Lockdowns lautet auch hier: Telefoncoaching, Onlinekurse und persönliches Hometraining.

Selbst wenn die Corona-Beschränkungen jetzt nach und nach aufgehoben werden – die Fitnesswelt wird eine andere sein. Viele kleinere Studios und frei arbeitende Personal Trainer werden die Krise wirtschaftlich nicht überleben. Die Margen sind zu dünn, um die temporäre Schließung und den – unter neuen Hygienestandards – erwartbaren Kundenrückgang zu überstehen. Dieser Trend macht selbst den bisherigen Vorzeigeunternehmen in Sachen Digitalisierung zu schaffen.

Gestern Investorenliebling, heute Entlassungen

Das US-Start-up ClassPass wurde noch Anfang Januar als erstes Einhorn des neuen Jahrzehnts gefeiert, als es eine Bewertung von einer Milliarde US-Dollar erreichte. Die Firma bietet ihren Mitgliedern gegen eine monatliche Gebühr Zugang zu einer Vielzahl von Fitnesskursen in privaten Studios. Doch das Virus schlug erbarmungslos zu: Anfang April war das Unternehmen nach der Schließung der großen Mehrheit seiner 30.000 Partner-Studios in 30 Ländern quasi zu einem Nichts geschrumpft: 95 Prozent des Umsatzes waren verloren. Mehr als die Hälfte der geschätzten 700 Mitarbeiter wurden beurlaubt oder entlassen.

Der europäische Konkurrent die – übrigens ein Jahr ältere – deutsche Sportplattform Urban Sports Club hält sich aktuell mit Zahlen bedeckt. Klar ist, dass die Suche nach neuen Geschäftsmodellen zwangsläufig ins Internet führt. Wer sich dort erstmal eine eigene Community aufbauen und dann die Beziehung zu ihr aufrecht erhalten muss, braucht neben Digitalwissen, technischem Equipment und Talent zum Entertainment aber auch einen langen Atem. Fitness goes Marathon.

Die Anstrengung könnte sich dennoch lohnen. Der Markt für Gesundheitssport weltweit ist mit etwa 94 Milliarden US-Dollar Umsatz riesig. So viel erwirtschafteten 2018 mehr als 210.000 Einrichtungen mit rund 183 Millionen Mitgliedern. In Deutschland sind es laut Branchenverband DSSV rund 9300 Studios, über elf Millionen Mitglieder und ein Gesamtumsatz von 5,33 Milliarden Euro. Doch hier wie dort hat Covid-19 diesen Wachstumsmarkt brutal gestoppt. Laut Schätzung vom amerikanischen Branchenverband IHRSA verlieren Gesundheitsclubs derzeit insgesamt 1,23 Milliarden US-Dollar – pro Woche. Der DSSV nennt solche Zahlen nicht, aber fürchtet eine riesige Insolvenzwelle und fordert deswegen in einem Brief an die Bundeskanzlerin „eine Senkung der Mehrwertsteuer auf sieben Prozent“. Digitalisierung in der deutschen Fitnesswelt? Neuland!

Dabei ist es durchaus möglich, einen bislang unentdeckten digitalen Schatz auch im Fitnesssektor zu heben. Ein US-Unternehmen macht vor, wie mit Cyber-Wellness und Digi-Sport Geld zu verdienen ist: Das Unternehmen Peloton, das 2013 als Anbieter von Indoor-Fitnessbikes gestartet und seitdem 577.000 Fahrräder und Laufbänder verkauft hat, erlebt seit Mitte März eine rasante Kursentwicklung an der Börse. Der Grund: Das über 2300 Euro teure stationäre Fahrrad ist quasi nur die Einstiegsdroge; Wachstumstreiber für das Unternehmen ist „Peloton Digital“. 

Covid-19 als Doping

Die App-Mitgliedschaft ermöglicht die Teilnahme an On-Demand-Kursen „beyond Biking“ - einschließlich Yoga, Cardio und Audio-Laufprogrammen mit persönlichen Lieblingstrainern. Das Marketingziel für die neuen Mitglieder heißt: „fall in love with the Peloton experience“, wie Peloton-Chef John Foley es formuliert, und zwar selbst dann, wenn man daheim auf einem Nicht-Peloton-Bike radelt. Seit dem Launch der App 2018 wurden nach und nach neue Features eingebaut, Kooperationen mit Apple (iWatch) und Amazon Fire TV geschlossen und so der Komfort stetig verbessert. Inzwischen sind zahlreiche Hotels Kunden und Partner zugleich. Schwer verliebte Peloton-Member finden via App sportliche Liebesnester, die mit dem Lieblingsbike ausgestattet sind.

Kein Wunder, dass Covid-19 für dieses Unternehmen nicht Dämon, sondern Doping ist: Am 16. März startete Peloton ein kostenloses 90-Tage-Einstiegsangebot. Und prompt sprang Peloton im Gesundheits- und Fitness-Ranking im Apple Store vom 35. auf den 9. Platz. Der Marketing-Coup zahlte sich aus: Seit dem Tiefpunkt des Aktienwertes Mitte März stieg der Kurs. Aktuell steht er so hoch wie nie zuvor. Peloton lässt offenbar nicht nur die Herzen der Sportler, sondern auch die der Anleger höher schlagen. Und vielleicht sind Cybersports eines Tages doch nicht nur olympiataugliche Computerspiele, sondern wirklich schweißtreibend.


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