80 Jahre Nylon Der Kunststoff, aus dem die Träume waren

Vor 80 Jahren wurde ein Mythos geboren: Nylon. Denn Nylon war elastischer, haltbarer, formbeständig und zudem leichter zu waschen als die damaligen Alternativen. Quelle: dpa

Nylon ist mehr als nur ein Material für schöne Strümpfe. Man kann an seiner Geschichte viel ablesen über die Entwicklung der Mode, der Frauen und der Gesellschaft.

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„Ein besserer Faden für ein besseres Leben“ unter diesem vollmundigen Slogan präsentierte die amerikanische Firma DuPont auf der Weltausstellung 1939 in New York ihre neueste Innovation: Nylon. Am 15. Mai 1940 kam es vor Kaufhäusern zu tumultartigen Zuständen. Die Frauen rissen sich um die ersten in Massenproduktion hergestellten Strümpfe aus diesem Material. Sogar die Polizei musste einschreiten. Dieser Tag ging als „Nylon Day“ in die US-amerikanische Geschichte ein. Ein Mythos war geboren. Und er war dafür verantwortlich: Wallace Hume Carothers, DuPonts Forschungsleiter, hatte die erste rein synthetische Faser entwickelt, aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff.

Doch warum gerieten die Frauen deswegen gleich so in Ekstase? „Jede Frau träumte von echten Seidenstrümpfen, doch die waren sehr teuer“, erklärt Elisabeth Hackspiel-Mikosch, Professorin für Modetheorie und Modegeschichte an der AMD Akademie Mode & Design Düsseldorf. Als preiswerte Alternative gab es bis zu jenem Zeitpunkt eine Kunstseide auf Cellulose-Basis. „Doch Nylon war elastischer, haltbarer, formbeständig, zudem leicht zu waschen. Zudem: Es machte einfach schöne Beine.“

Eine gigantische Werbekampagne DuPonts befeuerte fortan den Absatz. Ein bestrumpftes Bein, das meterhoch in den Himmel ragt. Zwei Frauen, die bei Messeauftritten eine Art Tauziehen mit den Nylons veranstalteten, um die Qualität zu demonstrieren. Solche Bilder halfen, den Hype zu entfachen. Fast zeitgleich entwickelte der deutsche Chemiker Paul Schlack Ende der 30er Jahre für die IG Farben eine nahezu identische Faser: Perlon. Statt eines erbitterten Rechtsstreits, einigten sich beide Seiten über die Nutzungsrechte und Aufteilung der Märkte.

Die Zeit, in der beide Unternehmen durch den Verkauf der Strümpfe das Geld säckeweise verdienten, währte nicht lange. Bald gingen Nylon und Perlon ausschließlich in die Kriegsausrüstung, zur Herstellung von Fallschirmen, Zelten oder Seilen. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lief die zivile Produktion wieder an in Amerika schneller als in Deutschland. Hier profitierten die Frauen von den Mitbringseln der GIs. „Bettkantenwährung“, so wurden die Nylons auch spöttisch genannt.

Doch sie waren weit mehr. „Die Frauen hatten nach den Jahren der Entbehrungen wieder Sehnsucht nach Eleganz“, sagt Hackspiel-Mikosch. Das erkannte auch Christian Dior und erschuf 1947 mit dem New Look ein radikal weibliches Frauenbild, mit schmalen Taillen, betonter Hüft- und Brustpartie. Eine kleine Dosis Eleganz lieferten die Nylonstrümpfe. Sie wurden zugleich zu einem Symbol eines rückwärtsgewandten Frauenbildes. Als die Männer im Krieg waren, übernahmen die Frauen die aktive Rolle in Arbeitswelt und Gesellschaft, die sie nun wieder abgeben sollten. Die Strümpfe waren Teil einer weiblichen Inszenierung, darauf ausgerichtet, einen gut situierten Mann zu finden.

„Bis in die 1970er Jahre hinein waren Frauen in Hosen im Stadtbild verpönt“, erinnert Hackspiel-Mikosch. Wer keinen Zugriff auf echte Strümpfe hatte, behalf sich mit Produkten wie „Farbstrumpf Coloral Sonnenbraun“, das sich wie ein Make-up auf die Beine auftragen ließ. Die schwarze Naht imitierte man mit einem Kajal-Stift.

Apropos: Jene feine Linie auf der Rückseite des Strumpfes, die Männerfantasien anregte, war nicht als Frivolität gedacht, sondern hatte eine praktische Ursache: Es gab anfangs keine Rundstrickmaschinen für dieses zarte Material. „No run“ (Keine Laufmasche), auf diesen Begriff soll der Name Nylon zurückgehen. Was sich jedoch als Illusion erwies. In speziellen Werkstätten wurden die Laufmaschen repariert. Mode war in den 50er Jahren eben noch kein Wegwerfprodukt.

Dass man Strümpfen überhaupt Aufmerksamkeit schenkte, galt lange als undenkbar. Denn das weibliche Bein war unsichtbar, verborgen unter bodenlangen Röcken. Erst die 1920er Jahre brachten seine Befreiung und setzten damit den Siegeszug der seidenen Strümpfe in Gang. Strumpf und Mode lebten fortan eine Art Symbiose. Rutschten die Rocksäume nach oben, mussten die Strümpfe mitziehen.

Als dann in den 60er Jahren der Minirock aufkam, reichten selbst die mit Hüfthaltern getragenen Varianten nicht mehr aus: die Strumpfhose trat ihren Dienst an. Und auch die Mode selbst bediente sich der synthetischen Fasern. Die Nyltesthemden der 50er und 60er Jahre zum Beispiel standen für den grenzenlosen Fortschrittsglauben jener Zeit und waren extrem pflegeleicht. Der große Nachteil: Sie trieften nach wenigen Trageminuten vor Schweiß begleitet von einem penetranten Geruch.

Ganz groß raus kam Nylon dann wieder in den 80er Jahren. Allerdings nicht am Bein, sondern auf dem Rücken, in Form von Miuccia Pradas schwarzem Rucksack. „Ich wollte das fast Unmögliche schaffen: Nylon luxuriös machen“, sagte sie einmal zu dieser Kreation. Solche Umdeutungen wurden zum Leitbild ihrer Mode. Das vermeintlich Altmodische, gar Hässliche machte sie immer wieder zum Trend. Und siehe da: Für den Sommer 2019 brachte sie sogar den knielangen Nylonstrumpf zurück auf den Laufsteg.

Mittlerweile stehen die Zeichen auf Nachhaltigkeit und das „neue Nylon“ heißt Econyl. Gewonnen aus alten Fischernetzen und Plastikmüll. Ab dem Jahr 2021 will Prada überhaupt kein neues Nylon mehr verwenden. Das britische Label Burberry stellte im Sommer eine Kollektion aus diesem recycelten Material vor, mit Trenchcoats, Kurzmänteln, Parkas und Accessoires. Und auch Tchibo hat Produkte im Sortiment, die auf Nylonabfällen basieren.

Wallace Hume Carothers übrigens, der Mann auf den all das zurückgeht, erlebte nicht einmal die Markteinführung der Nylonstrümpfe: Er nahm sich 1937 das Leben.

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