Wolfram Meyerhöfer, 42, arbeitet seit 2009 an der Universität Paderborn. Zahlen sind seine Welt. Ihn interessiert, wie Menschen Mathematik lernen. Er untersucht nicht nur die Ursachen der Rechenschwächen von Grundschülern, sondern auch mathematischen Analphabetismus sowie den Zahlenerwerb von Kleinkindern. Und er entwickelt Tests, die mathematisches Verständnis messen.
WirtschaftsWoche: Herr Meyerhöfer, für mich war Mathematik in der Schule Quälerei. Hat mein fast dreijähriger Sohn Chancen, die Welt der Zahlen einmal besser zu verstehen?
Meyerhöfer: Sicher, jedes Kind kann rechnen lernen.
Tatsächlich? Die wachsende Zahl von Berichten über Schüler mit Rechenschwächen lässt eher anderes befürchten.
Nach meiner Überzeugung nicht. Ich halte die Rechenschwäche für ein konstruiertes Phänomen.
Wollen Sie bestreiten, dass manchen Kindern Mathe schwerer fällt als anderen?
Richtig ist, dass die Kinder mit unterschiedlichen Vorstellungen von Mengen und Zahlen in die Schule kommen. Und ungefähr einem Viertel von ihnen erschließt sich diese Welt nicht von allein. Im ersten Schuljahr wäre aber genügend Zeit, für alle in der Klasse eine gemeinsame Basis in Mathematik zu erarbeiten. Diesen Stoff können alle Kinder bewältigen.
Fachbegriffe wie etwa Dyskalkulie lassen vermuten, dass es sich bei Rechenschwäche um eine Art Krankheit handelt.
Für manche Lehrer und Eltern ist es vor allem ein Weg, um sich aus der Verantwortung zu ziehen: Sie haben nichts falsch gemacht, das Kind ist ja krank und versteht Mathe deshalb nicht. Das ordnet sich ein in eine Kultur, die alles Abweichende als krank ansieht. Mediziner definieren sich dann plötzlich als Experten für das Rechnen, indem sie eine offizielle Krankheit definieren.
Gibt es Zahlen, wie viele Kinder pro Jahrgang eine Rechenschwäche haben?
Die Art der eher medizinisch orientierten Tests führt dazu, dass etwa sieben Prozent der Schüler eine Rechenschwäche zugeschrieben wird.
Was macht Sie so sicher, dass es keine Krankheit ähnlich wie die Lese- und Rechtschreibschwäche ist?
In sinnvollem Förderunterricht wird angeblich minderbegabten Schülern sehr erfolgreich das Rechnen beigebracht. Erfolgreiche Lerntherapeuten folgern daraus, dass im Schulalltag etwas schiefläuft. Für mich war das der Grund, mich intensiv damit zu beschäftigen.
Was ist Ihrer Meinung nach der Auslöser des Problems?
Als Mathematikdidaktiker besuche ich oft Schulen, etwa wenn meine Studenten bei Lehrern hospitieren. Oft bin ich entsetzt, was da abgeht. Mancher Matheunterricht ist so schlecht, dass die meisten Kinder gar nichts verstehen können. Ich bewundere manchmal, was die Kinder trotz des Unterrichts noch lernen.
Welche Folgen hat diese Art des Unterrichts für die Kinder?
Es beschädigt sie. Das Etikett "rechenschwach" klebt an ihnen und nimmt ihnen häufig jeden Ansporn, Mathe zu lernen. So produzieren wir Schüler ohne mathematisches Grundverständnis. Das ist für jeden einzelnen Schüler ein Drama – und für unser Bildungssystem ein Desaster.