Folgen der hohen Spritpreise Kommt jetzt der Boom der Fahrgemeinschaften?

Das Linzer Start-Up Carployee hat die intelligente Mitfahr-App Pave Commute entwickelt. Quelle: Carployee/Anna Moser

Fahrgemeinschaften können den Weg zur Arbeit unterhaltsamer und günstiger machen – zumindest in der Theorie. Bisher aber beharren die Deutschen darauf, allein zu fahren. Sorgt die Spritpreis-Explosion jetzt für ein Umdenken? Erste Anzeichen sprechen dafür.

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Als im Februar und März die Treibstoffpreise Allzeit-Höchststände erreichten, kannten die Nutzerzahlen von Goflux nur eine Richtung: nach oben. Die Registrierungsrate der Mitfahr-App verdoppelte sich. „Wir sind neben den Tankstellenbetreibern vielleicht das einzige Unternehmen in Deutschland, das sich über die gestiegenen Spritpreise gefreut hat“, sagt Gründer Wolfram Uerlich.

Für Uerlich sind es turbulente Zeiten: Vor drei Jahren gründete er Goflux, das sich vor allem an Berufspendler richtet und eine Plattform für gemeinsame Fahrten bieten will. Eigentlich keine schlechte Idee. Die Anzahl der Pkws in Deutschland ist hoch, die Besetzung allerdings gering. Auf deutschen Straßen staut es sich. Und seit Jahren werden, mitbedingt durch Dienstwagenprivileg und Entfernungspauschale, die Fahrtstrecken länger: Mitarbeitende nehmen immer weitere Wege zu ihrem Arbeitsplatz in Kauf.

Dann kam ein Jahr nach der Gründung die Pandemie. Das Fortbewegungsmittel Auto gewann sprunghaft an Beliebtheit, nur eines wollte plötzlich keiner mehr: seinen Wagen mit anderen teilen, aus Sorge vor einer Infektion. „Ein Großteil unserer Konkurrenten ist in den letzten zwei Jahren Pleite gegangen“, sagt Uerlich. Er hat durchgehalten – und könnte jetzt dafür belohnt werden.

Mitfahren: Corona-Tief, Sprit-Hoch

Die Preisrallye an den Tankstellen beflügelt derzeit fast alle Ideen, die irgendeine Form von Kosteneinsparungen versprechen. Die Inserate auf der Mitfahrplattform Blablacar, verdoppelten sich im Februar und März nahezu. Ähnliches erlebt das Start-up Carployee. Bis Corona kam, organisierte das Linzer Start-up wöchentlich rund 1000 Fahrgemeinschaften für Unternehmen. „Mit dem Lockdown waren wir dann von heute auf morgen praktisch bei null“, erinnert sich Mitgründer Albert Vogl-Bader. Und jetzt geht es wieder mit Vollgas in die andere Richtung: „Im März wurden wir täglich von ein bis zwei neuen Unternehmen angefragt“, erinnert sich Vogl-Bader.

Die Gründer des Linzer Start-ups Carployee (von links): Albert Vogl-Bader, Moritz Wenko und Gernot Panholzer. Quelle: Carployee/Anna Moser

Und vielleicht ändert sich damit endlich auch die allgemeine Lage der Mitfahrbranche. Das Teilen des Autos nämlich ist in Deutschland immer noch ein Nischenthema, vor allem im Berufsverkehr. „Dabei ist der Weg zwischen Wohn- und Arbeitsort ist bei der Verkehrswende eine der größten Herausforderungen“, sagt Philipp Kosok, Projektleiter bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende.

Zwischen zehn und 50 Kilometern beträgt er, im Mittel sind es aktuell 16 Kilometer, heißt es in einer im April veröffentlichten Studie. 63 Prozent dieser Berufswege werden mit dem Auto zurückgelegt. Und meist fahren die Beschäftigten allein: Nur vier Prozent sind Mitfahrerin oder Mitfahrer. 1,075 Personen sitzen im Auto. Die meisten sind also nahezu leer. „In der Theorie hat Mitfahren da ein großes Potenzial“, sagt Kosok.

Doch Mobilität ist oft eine Gewohnheitssache. Wer einmal mit dem Auto zur Arbeit fährt, der überlegt lange, bis er umsteigt. Goflux oder Carployee senken diese Hürde mit ihren Matching-Algorithmen ab. Sie optimieren die Routenplanung so, dass möglichst viele Mitfahrer ohne Umwege eingesammelt werden können. Die Nutzer bekommen dann direkt den bestmöglichen Ein- und Ausstiegspunkt angezeigt.

Über die App von Goflux lässt sich zudem die Zahlung abwickeln, vom Fahrtpreis gehen 15 Prozent an das Start-up. Außerdem lässt sich die Bewertung der Fahrer einsehen und live verfolgen, wo der sich gerade befindet. All das soll Fahrgemeinschaften, die sich einmal gefunden haben, auf der Plattform halten. 14.000 Nutzer haben sich inzwischen registriert, die in der App Kurz- oder Pendelstrecken inserieren oder suchen.

Goflux richtet sich aber nicht nur an Privatnutzer, sondern auch an Unternehmen. Die können die App so einstellen, dass Mitarbeitende nur Mitfahr-Möglichkeiten sehen, die ihre Kolleginnen und Kollegen anbieten. Außerdem unterstützt das Kölner Start-up Unternehmen dabei, das Angebot zu bewerben und eine Art internes Bonuspunkte-Programm zu entwickeln. Wer oft mitfährt, bekommt Gratis-Parkplätze oder andere Geschenke.

Zu den Kunden gehören etwa die Stadtwerke Bonn oder der Landschaftsverband Rheinland. Seit letztem Jahr bietet Goflux die Fahrten auch in Kooperation mit dem Verkehrsverbund Rhein-Sieg an. Wer in der VRS-App eingibt, von Kerpen nach Köln-Deutz fahren zu wollen, der bekommt auch die Mitfahr-Möglichkeit angezeigt. Weitere ÖPNV-Unternehmen sollen folgen, mit dem Ziel, so ein regionales Netzwerk aus möglichst vielen Fahrern und Mitfahrern aufzubauen.

Unternehmen müssen ihre Klimabilanz drücken

Während Goflux Privatpersonen sowie Betriebe mitnehmen will, richtet Carployee sich nur an Unternehmen. Die zahlen für die Software Lizenzgebühren. Seit März dieses Jahres bietet Carployee, das kürzlich von der US-Plattform Rideamigos übernommen wurde, Unternehmen ab 20 Mitarbeitern in einem Pilotprojekt einen digitalen Pendelassistenten an. Angestellte geben ihre Strecke und Fahrtgewohnheiten ein – also an welchen Tagen sie zu welcher Uhrzeit wie pendeln – und bekommen dann angezeigt, mit welchem Kollegen sie am besten mitfahren können. So will das Start-up direkt eine größere Anzahl an Nutzern einreichen, die das gleiche Ziel ansteuern.

Das Mitfahren soll eine stressfreiere An- und Abreise sicherstellen und ist weniger anonym. Wer will, kann sich bereits auf dem Weg zur Arbeit mit Kolleginnen und Kollegen austauschen. Im Gegenzug sammeln Angestellte für jede Mitfahrt Punkte, die sie dann ähnlich wie bei Goflux etwa für Gutscheine einlösen können, die das jeweilige Unternehmen bezahlt. So sollen Unternehmen ihre Klimabilanz drücken, ihren CSR-Berichtspflichten effektiver nachkommen und jungen Mitarbeitenden eine nachhaltigere Alternative zum Dienstwagen anbieten können.

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Marktkenner Kosok ist dennoch skeptisch, ob sich die Angebote jetzt zügig durchsetzen werden. Wer eine Fahrt sucht, fackelt nicht lang. Gibt es kein passendes Angebot oder ist der Treffpunkt nur schwer zu erreichen, kehren Nutzer den Plattformen schnell wieder den Rücken zu. „Mitfahrangebote brauchen eine kritische Masse an Nutzern, damit sie funktionieren“, sagt Kosok, „und dafür sind viele der Start-ups noch zu unbekannt.“ Eigentlich benötigten sie eine große, öffentliche Kampagne, unterstützt von der Politik, um für sich zu werben.

Transparenzhinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 2. Mai 2022 veröffentlicht, aufgrund des hohen Leserinteresses zeigen wir ihn erneut.

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