Wirtschaft von oben #190 – Russlands Strafkolonien In diesen Gulags sperrt Putin Kriegsgegner und Widersacher weg

Willkommen in Gulag-Land! In nahezu jedem der Orte in dieser Region in der russischen Teilrepublik Mordwinien gibt es bis zu drei Straflager. Quelle: LiveEO/Sentinel

Russlands Straflager sind berüchtigt, Zwangsarbeit ist Menschenrechtlern zufolge an der Tagesordnung. In manchen Gegenden sind die Gefängnisse ein echter Wirtschaftsfaktor, wie Satellitenbilder zeigen. Nun füllen sie sich auch mit Gegnern des Ukraine-Krieges. Wirtschaft von oben ist eine Kooperation mit LiveEO.

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Mehrere Reihen Maschendrahtzaun und Mauer, darüber Stacheldraht, ein Wachturm an jeder Ecke und dazwischen breite einsehbare Sicherheitsstreifen. Russlands Straflager, früher als Gulag bekannt, sind sogar aus dem Weltall unverkennbar. Nun füllen sie sich zunehmend auch mit jenen Kritikern, die den Krieg von Russlands Machthaber Wladimir Putin in der Ukraine kritisiert haben.

Die ersten Gerichtsurteile sind gesprochen. Die politischen Sträflinge von der Untersuchungshaft in die Strafkolonien verlegt. Neueste Satellitenbilder von LiveEO lassen die harschen Bedingungen erahnen, die dort herrschen. Und sie zeigen, wie ganze Landstriche in Russland von diesen gefürchteten Gefängnissen leben. Etwa in der Teilrepublik Mordwinien, rund 350 Kilometer südöstlich von Moskau. Die Arbeit der Häftlinge ist hier ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.

Im März 2022 hatte das russische Parlament eine Änderung des Strafgesetzbuches beschlossen, die Gefängnisstrafen für Antikriegshaltung ermöglichen. Für die „öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die Tätigkeit der Streitkräfte der Russischen Föderation“, wie es heißt, können Gerichte bis zu 15 Jahre Haft verhängen.

Der Oppositionelle Ilja Jaschin etwa, der nach dem Überfall auf die Ukraine Antikriegsvideos aufnahm und via YouTube sowie Telegram streamte, wurde erst vor wenigen Tagen zu acht Jahren und sechs Monaten Strafkolonie verurteilt. Zuvor hatte es unter anderem den Moskauer Lokalparlamentarier Alexej Gorinow erwischt. Ein Gericht verurteilte ihn zu sieben Jahren Haft, nachdem er sich im März kritisch über den Krieg geäußert hatte.

Und die Liste wächst an. Bei zahlreichen Protestierenden stehen die Urteile noch aus. Beispielsweise beim Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa, der gerade erst den Vaclav-Havel-Menschenrechtspreis erhielt, den der Europarat und die tschechische Regierung stiften. Vor wenigen Tagen erließ ein Gericht zudem Haftbefehl gegen Ilja Danilow, nachdem der den Krieg im sozialen Netzwerk Telegram kritisiert hat. Danilow war zudem einst in der südrussischen Stadt Lipezk Leiter eines Teams von Alexei Nawalny, dem heute wohl prominentesten politischen Gefangenen Putins.



Die Lager sind berüchtigt. Die Haftbedingungen seien katastrophal, berichtet der inhaftierte Ex-Parlamentarier Gorinow in einem Statement. Der Politiker musste Mitte des Monats in ein Gefängniskrankenhaus in der Stadt Wladimir verlegt werden, nachdem er aufgrund eisiger Temperaturen im Lager krank geworden war. Er leide unter Kälte, Hunger, Mangel an warmem Wasser. Auch dürfe er sich nicht hinlegen, bevor das Licht ausgehe. Es sei so kalt, dass er nachts kaum schlafen könne.

Vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus war er offenbar in einem Gefängnis ganz in der Nähe von Wladimir untergebracht. In jener Gegend rund 200 Kilometer östlich von Moskau liegt unter anderem das berüchtigte Lager IK-2, in dem bis vor kurzem auch Nawalny eingesperrt war. Das Gefängnis im Ort Pokrow hat die Kategorie „hohe Sicherheit“. Nawalny berichtete, dass dort peinlichst darauf geachtet werde, dass vor 22 Uhr niemand die Augen schließe.


Satellitenaufnahmen des Lagers zeigen mehrere Gefängnisblöcke mit eingezäunten und eingemauerten Vorhöfen, auf denen bei genauem Hinsehen vereinzelte Gefangene und ihre Schatten zu erkennen sind. Außerdem ist auf dem Gelände, wie in den meisten Gefängnissen, eine kleine Kirche zu sehen, zudem ein Verwaltungstrakt sowie Gebäude, bei denen es sich um so etwas wie Werkhallen handeln könnte. Viele Gefangene in Russland werden zur Arbeit gezwungen. Der Londoner Analysefirma Grey Dynamics zufolge gehört zu IK-2 unter anderem eine Lackiererei, eine Näherei, eine Montagewerkstatt und eine Schreinerei.

Nawalny wurde derweil im Sommer in die Hochsicherheits-Strafkolonie IK-6 in Melechowo verlegt, die ebenfalls in der Region Wladimir liegt.


In einem Statement Mitte des Monats beschrieb er, dass Häftlinge mit dem Schlagstock auf Hüften und Fersen geschlagen würden. Und dass er in Isolationshaft zusammen mit einem anderen Insassen gesperrt worden sei, der „Probleme mit der Hygiene hat“. In Isolationshaft landete er offenbar für den Gebrauch eines Schimpfwortes gegenüber einem Mitinsassen.

Einige Satellitenbilder des Lagers zeigen Gefangene, die in Reih' und Glied vor den Gefängnisblöcken aufgestellt sind. Etwa, um zu ihrem Arbeitseinsatz geführt zu werden oder wenn sie von dort kommen. Seitlich der Menschengruppe sind weitere Personen zu erkennen, offenbar Wächter. Andernorts stehen Insassen verstreut auf den Vorhöfen.


Unterschiede zwischen politischen Gefangenen oder anderen Straftätern gibt es in der Behandlung nicht. Oft werden politische Häftlinge jedoch von der Öffentlichkeit abgeschirmt. So auch Aktivist Andrej Piwowarow, der frühere Leiter der inzwischen aufgelösten Organisation Open Russia, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzte.

Er hat sich laut Anklage an „Aktivitäten einer unerwünschten Organisation“ beteiligt. Aktuell befindet er sich noch in einem Untersuchungsgefängnis bei Krasnodar, obwohl sein Urteil schon gesprochen ist: vier Jahre Haft. „Andrej wird vor den Journalisten und seiner Familie versteckt. Deshalb findet seine Gerichtsverhandlung nicht in Moskau oder Sankt Petersburg statt“, erklärt Tatjana Usmanowa, Leiterin der Verteidigungskampagne für Piwowarow. In welches Lager er kommt? Unklar.

In Russland werden Häftlinge nicht nur nach ihren Straftaten getrennt, sondern nach der Haftdauer. Kremlkritiker Nawalny sitzt in IK-6 in Melechowo, weil er neun Jahre absitzen muss. „In einem normalen Gefängnis wird man untergebracht, wenn die Haftzeit bis zu sechs Jahre beträgt“, erklärt Usmanowa. Und wer „Lebenslänglich“ bekommt, landet meist in Sibirien, wo es fünf Straflager für Mörder und Terroristen gibt.


In der Teilrepublik Mordwinien leben heute ganze Landstriche von den Arbeitslagern, zeigen aktuelle Satellitenbilder. Wie an einer Perlenschnur reihen sich hier kleine Orte aneinander, deren dominierende Baustruktur die Gefängnisse sind. Allein in der Gegend um Jawas lassen sich 18 Straflager zählen. In manchen der Ortschaften gibt es gleich zwei oder drei. Dem Zentrum für Oststudien in Warschau zufolge machen die Insassen hier einen Großteil des lokalen Arbeitsmarktes aus.

In Mordwinien landen auch immer wieder politische Gefangene. Die US-Basketballerin Brittney Griner etwa wurde unter anderem in der Frauenstrafkolonie IK-2 in Jawas gefangen gehalten. Russische Beamte hatten sie im Februar am Flughafen Moskau-Scheremetjewo festgenommen, weil sie Kartuschen für E-Zigaretten mit einem halben Gramm Haschischöl im Gepäck gehabt haben soll. Sie wurde Anfang Dezember in Abu Dhabi gegen den russischen Waffenhändler Wiktor But ausgetauscht, der in den USA inhaftiert war.

Auch der Historiker und Bürochef der Menschenrechtsorganisation Memorial, Juri Dmitrijew, wurde im April in eines der Gefängnisse rund um Jawas verlegt. Dem Mann, der große Teile seiner Kindheit in Dresden verbracht hat, werden sexuelle Vergehen gegen seine Adoptivtochter vorgeworfen. Laut der Organisation Human Rights Watch sei Dmitrijews Anklage jedoch klar im Zusammenhang mit Anstrengungen der Behörden zu sehen, die versuchten, die Verbrechen Stalins kleinzureden, die der Historiker untersucht hat. Dmitrijews hat unter anderem ein Massengrab aus der Stalin-Zeit aufgespürt. Eine ursprüngliche Strafe von etwas mehr als drei Jahren wurde Ende 2020 kurz vor Ablauf um mehr als neun Jahre aufgestockt.



Olga Romanowa, Direktorin der Organisation Russland hinter Gittern, zeichnet ein düsteres Bild von den Gefängnissen. Hinter vielen stecke knallhartes Geschäftsinteresse. Es gehe nicht um Umerziehung durch Arbeit, schrieb sie schon 2019 in einem Beitrag für die amerikanische Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden. Jedes Lager verfüge über eine eigene Fabrik, beispielsweise eine Näherei, eine Holz- oder Metallverarbeitung.

Das alles funktioniere nach dem selben Prinzip, das in den 1990er-Jahren schon viele Oligarchen zu unglaublichem Reichtum verholfen hatte. Neben den Fabriken aus der Sowjetzeit hatten sie damals Handelshäuser eingerichtet. Die Fabriken verkauften den Handelshäusern Waren zu extrem niedrigem Preis. Die Handelshäuser verkauften sie dann mit großem Aufschlag weiter.

Ein Teil der Gewinne aus der Sträflingsarbeit, so Romanowa, fließe als Schmiergeld zurück an die Leiter der Gefängnisse. Mitunter seien es sogar die Verwandten der Beamten, die die Waren weiterverkaufen und das Geld abschöpfen. Im Sommer berichteten russische Medien, dass einige der heutigen Gulags ihre Möbelproduktion ausbauen und damit etwa den Rückzug der schwedischen Möbelkette Ikea aus Russland kompensieren wollen.

Tatjana Usmanowa durfte Oppositionspolitiker Piwowarow einmal im Gefängnis besuchen. Am Tag der Duma-Wahl. „Die Erfahrung werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen“, sagt sie. Mehrfach wurde sie durchsucht. Anschließend in den Wahlraum gebracht. Direkt danach kam Piwowarow hinein. Er gab seine Stimme ab. „Andrej sagte zu mir, dass sie es nur gemacht haben, um zu zeigen, dass er lebt“, so Usmanowa. Zumindest werde gegen politische Häftlinge nur selten Gewalt verübt, sagt Usmanowa: „Sie wollen nicht, dass es an die Öffentlichkeit gerät.“

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In keinem anderem europäischen Land sitzt heute ein so großer Anteil der Bevölkerung im Gefängnis wie in Putins Reich. Auf 100.000 Einwohner kommen mehr als 400 Eingesperrte. Zum Vergleich, in Deutschland sind es nur etwas mehr als 70. Viele der Gefängnisse stammen noch aus der Stalin-Ära. Oft liegen die Lager in jenen Gegenden, die die Sowjetunion ökonomisch entwickeln wollte – mithilfe von Zwangsarbeit.

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