Wirtschaft von oben #229 – Migration auf dem Mittelmeer Hier sieht man, warum plötzlich so viele Flüchtlinge kommen

Flüchtlingsboote im Fischereihafen Ellouata, im Norden des Gouvernements Sfax, Tunesien. Quelle: LiveEO/Pleiades

Seit 2016 sind nicht mehr so viele Menschen per Boot nach Europa geflüchtet wie zurzeit. Besonders in Tunesien boomt das Schleppergeschäft. Satellitenbilder zeigen den Grund: ein gefährliches Discountpaket für die Überfahrt. Wirtschaft von oben ist eine Kooperation mit LiveEO.

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Die Flüchtlingskrise im Mittelmeer hat sich in den vergangenen Wochen mehr und mehr zugespitzt. Zuletzt trafen auf der kleinen italienischen Insel Lampedusa, die nur 125 Kilometer vor der tunesischen und 300 Kilometer vor der libyschen Küste liegt, binnen Tagen mehr als 10.000 Migranten auf Booten ein. Die meisten Anlandenden kamen aus instabilen afrikanischen Staaten südlich der Sahara. Etwa dem Niger, wo im Sommer das Militär geputscht und die Macht übernommen hat.

Immer mehr dieser Flüchtlinge wählen zurzeit ihren Weg nach Europa über Tunesien, oder scheitern bei dem Versuch. Das zeigen aktuelle Satellitenaufnahmen von LiveEO und Planet Labs. Und sie machen klar, warum das Geschäft der Schlepper in dem nordafrikanischen Land so boomt. Vor allem dank neuartiger Metallboote, die massenhaft rund um die Hafenstadt Sfax hergestellt werden und von den Stränden der Gegend in Richtung Europa starten, konnten die Schlepper den Banden im benachbarten Libyen den Rang ablaufen.

Dass die Schleppernetzwerke dazu übergegangen sind, Metallboote zu benutzen, die unmittelbar vor Abfahrt an den Stränden zusammengebaut werden, sei einer der Hauptgründe dafür, dass immer mehr Menschen über Tunesien flüchten, erklärt ein Sprecher der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex und fügt hinzu: „Dadurch sind die Preise für die Überfahrt übers Meer erheblich gesunken.“



Die Boote aus Eisen oder Stahl sind zwar billig. Zugleich sind sie aufgrund ihrer Bauart aber auch gefährliche Todesfallen. Hunderte Flüchtlinge sind allein dieses Jahr beim Versuch ertrunken, Europa zu erreichen. Viele schafften es noch nicht einmal in die Nähe von Lampedusa. Anwohner in Tunesien berichten offenbar immer wieder von angespülten Leichen und Körperteilen. Zugleich registrierte Frontex in den ersten acht Monaten des Jahres die höchste Zahl irregulärer Grenzübertritte seit 2016.

Zu sehen ist der Trend sogar aus dem All. Satellitenaufnahmen vom der Küste vorgelagerten Fischereihafen Ellouata in Tunesien zeigen einen Berg intakter und demolierter Metallboote, überzogen von braunem Rost. Die tunesische Küstenwache hat sie Medienberichten zufolge bei der Überfahrt abgefangen oder aus Seenot gerettet. Der Berg mit diesen Booten, der direkt am Hafeneingang liegt, ist erst in den vergangenen Monaten entstanden, wie die Aufnahmen belegen. Und er ist nicht der einzige. Die Behörden sammeln solche Metallboote gut erkennbar noch an einer weiteren Stelle im Hafen.


Hergestellt werden diese Boote laut Frontex in kleinen Werkstätten in und rund um die zweitgrößte tunesische Stadt Sfax. Wo genau sich die Werkstätten dafür befinden, ließ sich bei einer Satellitenbildrecherche nicht ermitteln. Auch weil die Boote offenbar erst am Strand endmontiert werden. Allerdings wimmelt es in Hafennähe und am Stadtrand von Sfax vor Schrottplätzen, auf denen beispielsweise ausrangierte Busse zerlegt werden. Das Material für die Boote dürfte also in der Gegend leicht zu bekommen sein.

In den vergangenen Monaten gab es immer wieder koordinierte Abfahrten, bei denen mehr als ein Dutzend Boote mit je 40 bis 50 Personen auf einmal aufgebrochen sind. Die Flüchtlinge sind dabei oft mit nicht viel mehr als einem Kompass, einem Smartphone und aufgeblasenen Gummireifen ausgestattet. Die meisten dieser Metallboote sind den Satellitenbildern zufolge gerade mal fünf bis sechs Meter lang, entsprechend ungeeignet, eine solche Zahl an Menschen zu tragen.

„Es gab schon immer kriminelle Banden, die verzweifelte Menschen, die in die EU gelangen wollten, ausnutzten, indem sie sie auf seeuntaugliche Boote mit kaum Vorräten, ohne Schwimmwesten und so weiter zwängten“, berichtet der Frontex-Sprecher. Jetzt aber sehe man gierige Menschenschmuggler, die um dieses lukrative Geschäft konkurrieren und versuchen, die Überfahrten zu rabattierten Preisen anzubieten. „Weil sie so schlecht gebaut sind, sind diese Metallboote wie Särge im Wasser.“

Anders als viele Holzboote schwimmen sie nicht, wenn sie kentern. Größeren Wellen oder gar Stürmen sind sie nicht gewachsen. Voll beladen schwappt schnell Wasser ins Innere. Für die Schlepper ist das jedoch ein Riesengeschäft. Zwischen 300 bis 1800 Euro kostet ein Platz in solch einem zusammengeschweißten Kahn. Bei 40 Insassen sind das zwischen 11.000 und 70.000 Euro Gewinn. Die Kosten für ein solches Boot dürften nicht viel mehr als ein paar Hundert Euro betragen. Zwei weitere Halden wie im Norden des Gouvernements Sfax finden sich direkt am Quartier der Küstenwache in der Stadt Sfax. Die ersten Boote sammelte die Behörde hier schon nach 2017. 2021 waren es so viele, dass eine weitere Halde hermusste. 


Besonders auf der zweiten Halde stieg die Zahl der offenbar abgefangenen und beschlagnahmten Flüchtlingsboote zuletzt an. Manche sind inzwischen halb im Wasser versunken. Und auch hier ist die Evolution der Transportmittel gut zu erkennen. Waren es anfangs vor allem alte Holz und Schlauchboote, die von Schleppern einkassiert wurden, kommen seit einigen Monaten immer mehr Metallboote dazu. Auch hier sind sie gut an ihrer rostbraunen Farbe zu erkennen.

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Wer überlebt und die Überfahrt schafft, landet meist in Lampedusa. Im Hafen dort stapeln sich derweil ebenfalls die Flüchtlingsboote. Satellitenaufnahmen lassen erahnen, wie massiv die Zahl in den vergangenen Wochen war, die hier angelandet ist. Waren es Anfang Juni einer Satellitenaufnahme zufolge rund drei Dutzend, die hier zusammengebunden am Hafeneingang lagen, hat sich ihre Zahl inzwischen mindestens verdreifacht. 


Mitte September waren an diesem Ort jede Menge Metallboote dazu gekommen, zeigt eine niedrig aufgelöste aktuelle Satellitenaufnahme, auf der die Boote rostbraun schimmern. Gestützt wird dies durch Pressefotografien vom Hafenbecken, die am selben Tag entstanden. Am Folgetag besuchte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Insel. Auf dem neuesten Satellitenbild sind die Metallboote dann jedoch verschwunden. Vermutlich wurden sie aufgrund ihrer scharfen Kanten sicherheitshalber weggeschafft. Die Holzboote ließ der Hafen aber öffentlichkeitswirksam liegen.


Anfang September haben sich die Flüchtlingsboote vor Lampedusa sogar gestaut, um im Hafen festzumachen. Ein Video der italienischen Nachrichtenagentur Ansa zeigt mehr als eine Handvoll Metallboote, wie sie die italienische Insel erreichen.

Dabei hatte Tunesien erst im Juni ein Abkommen mit der EU geschlossen, die eigenen Grenzen besser zu schützen. Dafür bekommt das Land immerhin eine Milliarde Euro.

Manche der Flüchtlinge in Tunesien versuchen seit Jahren, nach Europa zu kommen, haben es schon erfolglos über die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla versucht. Viele erfahren inzwischen Anfeindungen der lokalen Bevölkerung in Tunesien. Nach Unruhen im Sommer wurden die Migranten beispielsweise aus der Stadt Sfax vertrieben. 

Italien hat seit Jahresanfang mehr als 126.000 Flüchtlinge verzeichnet. Ein Ende der Welle ist vorerst nicht abzusehen. Das bringt die rechte Regierung um Giorgia Meloni zunehmend in Bedrängnis, war sie doch mit dem Versprechen zur Wahl angetreten, das Flüchtlingsproblem zu lösen – zur Not mit einer Seeblockade. 

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Angesichts der seeuntüchtigen Metallboote ein Unterfangen, was schlicht nicht durchsetzbar ist, weil es für die Flüchtlinge wohl in sehr vielen Fällen das Todesurteil wäre. Die Bevölkerung auf Lampedusa fürchtet unterdessen, dass die Regierung ein großes Zeltlager aufbauen und aus dem Eiland eine Art Gefängnisinsel für Geflüchtete machen könnte.

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