„Besondere Aufgabe“ VW startet Bau seines ersten deutschen Zellwerks

Volkswagen hat die Stahl- und Industriestadt Salzgitter in Niedersachsen ausgewählt, um hier ein Zentrum der europäischen Produktion von Batteriezellen hochzuziehen Quelle: dpa

Akkus statt Zylinder – VW führt seine Verbrennungsmotoren-Hauptfabrik in die neue Zeit. Europas Autobranche muss sich sputen, will sie nicht den Anschluss an Asien und die USA verpassen.

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Sucht man einen Ort, an dem die Umwälzungen im Automobilbau so drastisch wie kaum anderswo zu sehen sind, ist Salzgitter sicher ein Top-Favorit. Volkswagen hat die Stahl- und Industriestadt in Niedersachsen ausgewählt, um hier ein Zentrum der europäischen Produktion von Batteriezellen hochzuziehen – gleich neben dem Motorenwerk, aus dem seit Jahrzehnten viele Konzernmarken Benzin- und Dieselantriebe bekommen. Seit Donnerstag beginnt nun eine Etappe, die für die zweitgrößte Autogruppe von elementarer Bedeutung ist. Und diese könnte noch weit über VW und Europa hinaus reichen.

Rasch haben sie zur Grundsteinlegung einige der üblichen Superlative parat. Vorstandschef Herbert Diess spricht von einem „Meilenstein“ und „historischen Tag“, die große Eröffnungssause heißt hip „Mission SalzGiga“, mal wieder raunt die Branche über ein „Leuchtturmprojekt“. Aber in der Tat markiert dieser Tag – abgesehen von allerlei Technik-Pathos und Marketing-Jubel – einen entscheidenden Schritt.

Denn Volkswagens erste deutsche „Gigafactory“, wie man die Fabrik in Anspielung auf den Erzrivalen Tesla nennt, steht gleichermaßen für den Aufbruch in die elektrische Massenfertigung wie für das recht späte Erwachen der Autobauer, den dominanten Batteriemächten vor allem aus Asien etwas entgegenzusetzen. Bisher ist die Verwundbarkeit hoch. Die brüchigen globalen Lieferketten bei Chips und Rohstoffen wie Lithium oder Kobalt sind ebenso ein Grund, warum sich Europas Wirtschaft mehr auf heimische Ressourcen besinnen will. Darauf wiesen zuletzt auch die deutsche Industrie und die Bundesbehörde BGR hin.

Kanzler Olaf Scholz sieht das Werk als Beitrag, um unabhängiger von Lieferanten zentraler Technologien aus anderen Regionen zu werden. Früher hätten viele gedacht, die Kernstücke von E-Auto-Akkus einfach in Asien bestellen zu können, sagt er. „Heute wissen wir das besser.“ Die Folgen von Corona-Krise und Ukraine-Krieg zeigten: „Abhängigkeit bedeutet auf manchen strategischen Feldern ein großes Risiko. Deswegen kommt Ihnen in Salzgitter eine besondere Aufgabe zu.“

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil setzt die Offensive bei Batterien auch in Bezug zu den aktuellen Sorgen um die Energiekosten: „Am Ende dieser Teuerungswelle wird man wahrscheinlich feststellen: Die erneuerbaren Energien sind auf Dauer um einiges wirtschaftlicher als alles das, was auf fossiler Grundlage betrieben wird.“

Die neuen Produktionshallen werden das erste konzerneigene Zellwerk in Deutschland bilden – europaweit ist es eine Premiere, wenn man von einer Anlage des Partners Northvolt in Schweden absieht. Bis 2030 sollen sechs europäische VW-Zellfabriken entstehen. Während die Jobs in klassischen Bereichen mittelfristig abnehmen, soll es in Salzgitter insgesamt 5000 Stellen in der Zellfertigung - davon etliche aus der Transformation des Motorenbaus - sowie in den zentralen Bereichen des neu gegründeten Unternehmens PowerCo geben.

Diess betont: „Das Auto bleibt der Kern unseres Geschäfts. Aber es wird elektrisch, autonom. Es wird das komplexeste Digitalprodukt der Welt.“ Möglichst viele Beschäftigte sollen für die Batteriezell- und -modulherstellung weiterqualifiziert werden. Doch es ist auch nicht einfach, genügend zusätzliche Experten von außen zu gewinnen.

Angedockt ist ein Forschungszentrum, perspektivisch soll ein Großteil des Batteriegeschäfts aus der Stammregion gesteuert werden. Ausgehend von einer elektrischen Gesamtenergie von 20 Gigawattstunden (GWh) ab 2025 peilt man in Salzgitter über mehrere Schritte eine Jahresmenge von 40 GWh an. Dabei geht es um die „Einheitszelle“ – also einen Typ, der nicht für Oberklasse-, sondern für preiswertere Modelle gedacht ist und dank großer Volumina kostengünstiger produziert werden soll.

Jedes Werk ist für die Ausrüstung von einer halben Million E-Autos pro Jahr ausgelegt. Im schwedischen Skellefteå wird schon gebaut. VW hat außer Salzgitter Valencia in Spanien genannt. Für die übrigen drei Orte gibt es Interessenten in Deutschland und Osteuropa.

Das ganze Zell-Netzwerk soll europaweit bis zu 20.000 Jobs schaffen, auch in den USA werden neue Fabriken geprüft. Beinahe scheint Diess das Schaulaufen der Politik vor den nächsten Festlegungen zu genießen. Man könne sich „vor Bewerbungen kaum retten“. Vor der Belegschaft erklärte er: „Von der Rohstoff-Beschaffung bis zum Batterie-Recycling wollen wir alles in der Hand behalten.“

Die Firma PowerCO wird unter anderem für Forschung, Rohstoffeinkauf und Entwicklung der Anlagen zuständig sein. Sie könnte an die Börse gehen. Mit Bosch wird VW wohl komplette Standardfabriken ausstatten.

Ob die derzeit veranschlagten Zahlen ausreichen, wenn der E-Mobilität der Durchbruch gelingen soll, hält mancher Experte für fraglich. „Neben dem dringlichen Ausbau der Ladeinfrastruktur ist eine deutlich breitere Produktpalette im Einstiegssegment notwendig“, sagt Marcus Hoffmann vom Beratungsunternehmen PwC Strategy&. Diess sieht eher die Zellen als möglichen Mangelfaktor, nicht mehr so sehr die Ladepunkte.

Die von Klimaschützern vermissten E-Kleinwagen sollen ab 2025 kommen, bisher boten die VW-Marken Stromer bevorzugt im Ober-, Mittel- oder oberen Kompaktsegment an. Ein ID.2 im Polo-Format wird diskutiert.

Stefan Reindl, Direktor des Instituts für Automobilwirtschaft (IfA) in Geislingen, verweist wie auch einige VW-Stimmen darauf, dass das Tempo bei der Erweiterung der Kapazitäten jetzt nicht nachlassen dürfe. Mercedes, BMW oder Opel investieren in Deutschland ebenso in leistungsstarke Auto-Akkus. Der Grad der Eigeninitiative sowie die Beteiligungs- und Finanzierungsmodelle sind aber unterschiedlich.

Strebe man allein für die Bundesrepublik im Jahr 2025 eine Zahl von gut 600.000 im Inland verkauften und etwa 3 Millionen produzierten E-Autos an, dann könnte eine anteilige Energiemenge von etwas mehr als 220 GWh genügen, schätzt Reindl. In der Zeit danach müsse wohl einiges nachkommen: „In der Langfristperspektive wären mehr als 600 GWh nach den vorliegenden Daten möglich.“ Die Investitionen sind also gewaltig. Doch er findet, das Risiko sollten die Anbieter eingehen.

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Schließlich nehme der Hunger nach Batteriezellen weltweit zu, betont der IfA-Chef: „Insgesamt sind zur Deckung der Nachfrage, die relativ dynamisch wächst, zusätzliche Produktionsstätten notwendig.“ Ganz zu schweigen von Lerneffekten und neuer Arbeit für die neue Auto-Ära.

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