Chipknappheit Warum Autos jetzt halbfertig gebaut und geparkt werden

Am Messegelände in Hannover stehen mittlerweile viele Pick-ups von Mercedes-Benz auf Halde. Quelle: dpa

Die US-Sanktionen gegen China verschärfen die Chipkrise für die Autobauer. Ein Experte erklärt, mit welch kreativen Ideen die Branche trotzdem Autos ausliefert – und ob Kunden mit dem Kauf eines Neuwagens warten sollten.

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Die deutschen Autobauer waren von der Chipkrise ohnehin schon hart getroffen. Jetzt verschärfen die US-Sanktionen gegen China die Probleme: Hersteller wie Mercedes müssen auf den chinesischen Chip-Lieferanten Huawei verzichten. Im Gespräch erklärt Peter Fintl, Technologiechef bei der Unternehmensberatung Capgemini, wie  die deutschen Autohersteller mit der Chipknappheit umgehen – und was Autokäufer jetzt wissen müssen.

WirtschaftsWoche: Wie schlimm ist die Chipkrise für deutsche Autobauer?
Peter Fintl: Die Krise ist noch nicht vorbei. Die Autohersteller kämpfen um jeden einzelnen Chip. Seit über einem Jahr schon treffen sich die Taskforces für die Chipbeschaffung mit täglicher Kadenz zur Krisensitzung. Das Problem ist, dass die Autobauer keinen vollständigen und transparenten Überblick über ihre Lieferketten haben. Die Hersteller müssen jetzt genau ausarbeiten, welche Chips in ihren Steuergeräten drinstecken und wie diese zeiteffizient beschafft werden können.

Führt der Huawei-Boykott zusätzlich zu einer Chipknappheit bei den Autobauern? Mercedes etwa hatte vor einem Jahr noch 50 Prozent ihrer Kommunikationsmodule mit Huawei-Chips ausgestattet. Werden die noch geliefert?
Generell haben die Exportsanktionen der US-Regierung die betroffenen chinesischen Hersteller schwer getroffen. Entwicklung, Produktion und Vertrieb kritischer Bauelemente sind damit stark eingeschränkt. Langjährige Kunden der chinesischen Halbleiterindustrie erleben im Zusammenhang mit der allgemeinen Chipkrise einen perfekten Sturm.

Peter Fintl ist Technologiechef der Unternehmensberatung Capgemini. Quelle: Presse

Macht die Krise sich beim Angebot bemerkbar?
Sie finden jetzt leicht eine S-Klasse, aber nur schwer eine A-Klasse. Denn die Hersteller bauen die erhältlichen Chips in ihre Premium-Modelle ein, mit denen sie die größten Margen verdienen. Das sieht man auch an den Preisen auf dem Gebrauchtwagenmarkt – die entwickeln sich aus Händlersicht erfreulich.

Gibt es denn so viel Nachfrage nach Premium-Autos?
Der Markt schluckt dies tatsächlich – die Autos werden verkauft. Elektroautos ab 70.000 Euro, also die Geschäftswagenklasse, sind auf sechs bis neun Monate ausverkauft.

Wie schaffen die Autobauer mehr Transparenz in ihren Lieferketten?
Man muss im ganz großen Maßstab Informationen sammeln und eine Supplier-Datenbank aufbauen. Das ist ein großes Vorhaben, bei dem Einkauf, Technik und Produktion wie auch Zulieferer Input liefern. Dazu muss man die Daten noch zielgenau analysieren – insgesamt geht es um tausende Teile im industriellen Maßstab. Bei Chips ist es am komplexesten, denn es geht um cyberphysikalische Systeme, also ein Zusammenspiel aus Software und Hardware. Es gilt, Informationen von Sublieferanten zu erhalten, was lieferbar ist. Dann muss man entscheiden, ob der Chip, den man eigentlich einbauen will, durch einen anderen, gerade erhältlichen Typen ersetzt werden kann – zum Beispiel, indem man die Software anpasst. Das ist eine klassische Aufgabe für einen Ingenieur. Der muss das Risiko, das eine solche Abweichung bedeutet, mit Augenmaß bewerten.

Heißt das, dass Autokäufer jetzt in der Chipkrise möglicherweise ein höheres Risiko eingehen, gewissermaßen eine Zitrone zu kaufen, wenn solch eine Kreativität ins Spiel kommt?
Niemand muss sich vor Fehlfunktionen fürchten, etwa dass sich das Fenster öffnet, wenn man den Blinker betätigt – diese Probleme aus der Frühzeit der Fahrzeugelektronik sind passé. Heute sind einfach bestimmte Ausstattungen nicht verfügbar bei der Auslieferung. So sind bestimmte Lautsprechersysteme derzeit betroffen. Viele Autos werden jetzt ohne Rückfahrkamera ausgeliefert. Oder das Infotainmentsystem funktioniert nur mit dem Drehknopf, nicht aber per Touchscreen. Der Hersteller kann die fehlenden Komponenten demnächst über das Händlernetz nachrüsten lassen.

Wenn die Autobauer auf Chip B oder C zurückgreifen und kreativ werden, geht das mitunter zu Lasten der Qualität?
Das oberste Ziel der Autohersteller ist die Risikominimierung. Der Wettbewerb ist zu intensiv, als dass eine Marke sich einen echten Qualitäts-Fauxpas erlauben kann. Jeder Ingenieur streicht lieber eine Sonderausstattung oder rüstet sie nach, als ein erhöhtes Risiko für Fehleranfälligkeit einzugehen. Zitronen sind diese Fahrzeuge nicht, nicht einmal grüne Bananen gehen zu den Käufern – höchstens vielleicht ein bisschen weniger süße.

von Andreas Macho, Annina Reimann, Martin Seiwert, Silke Wettach

Und die Premiumkäufer reagieren nicht verschnupft, wenn ihr neues Auto ohne Premiumlautsprecher geliefert wird? Würden sie da nicht lieber abwarten mit dem Kauf?
Offenbar benötigen genügend Menschen jetzt sofort ein neues Auto und sind deshalb bereit, Kompromisse einzugehen. Aber es kann auf Dauer einen anderen deutschen Trend angreifen. Hierzulande puzzeln sich die Käufer ihre Autos gern zusammen. Die Massenindividualisierung ist der Weg der Autokonzerne, hohe Margen zu erzielen. Aber wer braucht 15 verschiedene Optionen für Intarsien für viele 100 Euro extra? Tesla hat den Modellbaukasten erheblich reduziert, da kann man beim Model S nur zwischen drei farblichen Interieurs wählen und zwischen zwei verschiedenen Felgen – und die Premiumkäufer hält das nicht ab. Vielleicht ist die Aufpreislisten-Orgie alsbald schon Schnee von gestern. Zumindest steht der Grenznutzen in Frage, ab welcher Klasse es nötig ist, sich mit seinem Fahrzeug ausstattungstechnisch selbst zu verwirklichen.

Aber wie erwirtschaften die deutschen Hersteller dann künftig ihre Marge?
Das ist auch eine Chance für die Hersteller, viel Komplexität aus der Produktion herauszunehmen. Das kann den Margenverlust teilweise kompensieren. Die Produktionseffizienz wird ohnehin stetig erhöht. Zuletzt machte aber auch eher Tesla hier von sich reden. Etwa mit Innovationen wie der Gigapress, wo Heckmodule von Autos in großen Formen in einem Schritt gepresst werden, statt sie aus vielen einzelnen Blechteilen zusammenzufügen. Das senkt die Produktionszeit für dieses Bauteil deutlich unter 200 Sekunden.

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Was passiert jetzt mit den Mittelklasseautos?
Hersteller versuchen natürlich, Produktionsunterbrechungen soweit wie möglich zu vermeiden. So ist es ein gängiges Verfahren, Fahrzeuge soweit wie möglich vorzumontieren und dann auf großen Parkplätzen für die Nacharbeit zu lagern. Aktuell sind diese gut gefüllt. Fast jedes Werk hat große Logistikflächen, dazu gibt es auch viele Sondergelände – wie etwa an den Häfen. So fehlen zum Beispiel derzeit etwa Fensterheber-Module, ein echtes Standardteil. Das zeigt, dass das ganze Liefersystem aktuell einfach komplett aus dem Tritt ist. Es gibt keinen Gleichschritt mehr. Entsprechend groß ist der Druck auf die Industrie.

Mehr zum Thema: Weitgehend unbemerkt hat sich der Darmstädter Pharma- und Laborkonzern Merck im Halbleitergeschäft an die Weltspitze geschlichen. Während andere über Chipmangel klagen, steigen bei Merck die Umsätze.

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