VW-Software-Tochter Cariad „Die Erwartungshaltung war anfangs bisweilen unrealistisch“

VW-Software-Tochter Cariad Quelle: imago images

Nach massiver Kritik und Berichten über Zeitverzögerungen bei der Entwicklung von Software meldet sich nun der Chef der Volkswagen-Softwaretochter Cariad zu Wort. Im Interview spricht Dirk Hilgenberg über planerischen Verzögerungen bei der künftigen Softwareplattform, die über 100 Unternehmenskulturen, erste Fortschritte, sein Umdenken und den gesuchten Superentwickler. 

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Herr Hilgenberg, Cariad steht aktuell in der Kritik. Sie sollen das Betriebssystem entwickeln, mit dem ab 2025 alle Autos aus dem VW-Konzern fahren sollen. Doch angeblich verzögert sich alles nun. Was ist los bei Ihnen?
Hilgenberg: Um den Start der neuen elektrischen Premium-Plattform PPE für Audi- und Porsche-Modelle sicherzustellen, haben wir im Herbst Ressourcen massiv umpriorisiert. Das hat zu planerischen Verzögerungen bei der künftigen Softwareplattform geführt. Manche Zeitpläne erscheinen da nun sehr ambitioniert. Die Entscheidung über Fahrzeuganläufe liegt aber bei den Marken. Die Erwartungshaltung bezüglich Cariad war anfangs super hoch und bisweilen unrealistisch. So kann es auch mal zu Umplanungen kommen.

Das heißt, neue Versionen der Modelle Porsche Macan oder Audi-E-Tron Q5 und Q6 werden später zum Kunden kommen?
Gemeinsam mit den Marken, Volkswagen, Audi und Porsche verfolgen wir sehr ambitionierte Zeitpläne. Wir stimmen uns daher eng ab, wie wir in den Anlauf gehen. Denn man fängt bei einem neuen Fahrzeug ja auch nicht mit allem neu an, sondern man nimmt auch mal einen bestehenden Motor. In der Softwareentwicklung ist das eine kontinuierliche Diskussion: Wie viel Neues können wir in welcher der Plattformen bringen und wie stellen wir gleichzeitig sicher, dass der Anlauf dann auch wirklich robust hochläuft? 

Bei der Software liefen im VW-Konzern schon viele Dinge schief. Das VW-Elektrofahrzeug ID.4 etwa soll seine Fahrer in den USA gerne mal an Tankstellen lotsen, allerdings an solche für Verbrenner. Stimmt das?
Ja, solche Vorfälle gab es in der Vergangenheit. Das schmerzt und tut uns leid. Es war für unsere Kundinnen und Kunden ärgerlich, wenn man zum Produktionsstart nicht die Funktionalitäten hat und jetzt zwei Jahre später eigentlich da steht, wo man schon längst hätte stehen wollen. Wir arbeiten daran, dass das nicht wieder vorkommt und liefern an die ID.-Familie kontinuierlich kostenlose Updates over-the-air mit Verbesserungen und neuen, starken Funktionen.

von Martin Seiwert, Annina Reimann, Matthias Hohensee

Viele solcher Probleme rühren aus der Zeit, bevor Cariad im Jahr 2020 gegründet worden ist. Ärgert Sie das?
Wir haben viele Probleme bereits gelöst und wir haben das gemeinsam geschafft, das Team ist daran gewachsen. Die Prozesse sind jetzt stabiler als vorher. Aber man kann wirklich sagen: Es war ein steiniger Weg bergauf. Das hat uns zusammengeschweißt, gerade auch mit der Marke Volkswagen und wir haben jetzt verstanden und verinnerlicht, was wir für zukünftige Fahrzeugarchitekturen anders machen müssen. 

Insider sagen: 10 Prozent der Probleme bei Cariad sind technischer Natur, 90 Prozent kultureller. Stimmt das? 
Ja, das ist zumindest nicht realitätsfern. Es ist aber auch vollkommen normal. Wir haben anfangs über 2000 Mitarbeiter von Porsche, VW und Audi leihweise zu uns geholt, 85 Prozent wollen nun sogar bleiben. Dazu kommen ehemalige Mitarbeiter von Tesla, SAP und so weiter. Wir haben in kürzester Zeit über 100 Unternehmenskulturen zusammengebracht. Wir sind ein Schmelztiegel der Kulturen. Da funktioniert also nicht alles ab Tag eins reibungslos. Ich musste Veränderungsagenten reinholen, um das System zu öffnen. Es hat sich da aber schon viel getan.

Was denn?
Wir sind gegründet worden als organisatorische Kopie des Konzerns. Doch das haben wir mittlerweile geändert. Die Entscheidungen bei uns werden nun in einer Ebene getroffen, es gibt eine Produktplattform, eine Technikplattform und eine operative Plattform. Alle Gremien, die den gleichen Namen wie im Konzern hatten, haben wir abgeschafft. So sind wir in den letzten zwei Jahren signifikant schneller geworden, da hat auch VW-Chef Herbert Diess stark darauf hingewirkt. Hierarchie reduzieren wir kontinuierlich. Das ist Herbert Diess ein Herzensanliegen. Er ist Anti-Hierarch. Er lebt flache Hierarchien selbst vor. Zudem öffnet er uns Türen im Konzern und schaut, dass wir die richtigen Partner bekommen.

War es nicht der Geburtsfehler von Cariad, die neue Firma genau mit den Leuten von Audi, VW und Porsche zu bestücken, die vielleicht schon die bestehenden Softwaredesaster etwa beim Golf 8, dem Taycan oder dem ID.3 verursacht haben?  
Nein, denn wir müssen die Software für die bestehenden Modelle auch bedienen. Ich brauche also beide Welten: Ich brauche die Automobilexperten, die den Softwareexperten was beibringen und umgekehrt. Ich sehe es deswegen als einen Wettbewerbsvorteil, dass wir alle haben. 

Ende 2022 sollen 10.000 Menschen für Cariad arbeiten, inklusive jenen aus den zahlreichen Beteiligungen. Doch Softwareexperten sagen: Ich brauche nicht viele Menschen, ein Stararchitekt schafft mehr als 100 Bauzeichner. Wie sehen Sie das? 
Ob wir tatsächlich 10.000 Mitarbeiter bei Cariad brauchen, werden wir sehen. Das ist keine feste Vorgabe und kein Selbstzweck. Und an den Starentwicklern sind wir dran. Wir haben uns bereits Leute reingeholt wie Kollegen von Tesla, IBM, oder unsere Technikvorständin Lynn Longo. Alle diese Menschen haben das Netzwerk, diesen Superentwickler zu rekrutieren. Der kann dann in kleine, hochspezialisierte Top-Teams reingehen, sich einschließen und über Nacht Probleme lösen. Genau diese Profile holen wir uns rein, um auch dieses Mindset bei uns zu verinnerlichen. Ist das heute schon überall verinnerlicht? Nein, aber das ist der Pfad, den wir gehen. 

„Der Druck ist enorm“

Wenn man für Cariad eigentlich Superentwickler braucht, sind Sie als typischer Automann dann überhaupt der Richtige an der Spitze? 
Ja. Am Ende des Tages geht es darum, ein Technikteam zu integrieren. Es geht darum, Menschenkenntnis zu haben und die richtigen Talente zu identifizieren. Viele habe ich persönlich interviewt. Es geht um Führungsstärke und darum, ein Team zusammenzubringen. Es geht darum, Brücken zu bauen zwischen unterschiedlichen Welten und sie in ein neues, gemeinsames Ziel zu führen. Denn leider haben wir es auch erlebt, dass Menschen, die aus der Softwarewelt kommen, in der Automobilwelt brutal abtropfen. Nun ist es meine Aufgabe, das Saatgut in den aufgebrochenen Boden einzubringen. Und zwar so, dass wir es nicht gegen die Kolleginnen und Kollegen aus der Autowelt machen, sondern mit ihnen gemeinsam - sonst wächst in diesem Boden nachher nichts.

Cariad gibt es erst zwei Jahre lang – und doch wurde der Vorstand bereits mehr als einmal komplett ausgetauscht. Was ist da los? 
Bevor ich kam, gab es für Cariad andere Ziele. Mit den neuen Zielsetzungen konnten dann persönliche Karriereerwartungen von manchen Führungskräften nicht mehr erfüllt werden. Mit der Vorgabe von nur vier Vorständen zum Beispiel war klar, dass mancher, dem ein Vorstandsposten versprochen wurde, das nicht mehr erreichen konnte. So haben sich dann Wege getrennt, einfach weil die Zielvorstellungen nicht mehr zusammenpassten. Denn auch bei uns gibt es Menschen, die sagen: Hm, dann habe ich ja nicht mehr so viele Leute, nicht mehr so viel Budget. 

Gibt es einen Brain Drain? 
Nein. Im vergangenen Jahr hatten wir eine Fluktuation von gerade mal zwei Prozent. Und doch ist es wahr: Das hier ist harte Arbeit. Das bedeutet: viele Stunden, extremes Commitment. Wir sind hier aber auf dem Schiff, das auf dem richtigen Kurs ist. Da stürmt es auch mal, es gibt Hagel, es gibt es Gegenwind, und wer auf diesem Schiff mit dabei ist, muss einiges abkönnen. Gleichzeitig gibt es auch starken Rückenwind. 

Wie wollen Sie den Vorsprung von Tesla und Co. noch aufholen? 
Unsere Softwarearchitektur ist einer Zentralrechnerarchitektur ähnlich der von Tesla nachempfunden, aber schon ein, zwei Schritte weiter. Unsere Software muss aber für ein deutlich breiteres Spektrum von Fahrzeugen geeignet sein, deswegen haben wir es schwerer. Wir haben bereits sehr, sehr viel erreicht - aber noch nicht das, was wir hätten erreichen wollen. Denn der Druck, der auf Cariad liegt, dass wir gegenüber den Wettbewerbern aufholen müssen, der Druck ist enorm. Da gibt es noch eine Menge zu tun. Deswegen wachsen wir jetzt sehr stark anorganisch, kaufen ganze Teams, weil organischer Aufbau einfach zu lange dauert. 

Sie wollen zukaufen? 
Ja, und die Projekte laufen. Wir haben weiße Flecken identifiziert in der Umsetzung zu unserem Ziel, mehr selber zu entwickeln. Das gehen wir an. Wir gucken international nach Firmen, die wir kaufen können – also in Asien, USA und Europa. Da geht es um Kompetenz. Wir arbeiten intensiv daran. Das hat Fokus und Priorität. 

Im September haben Sie noch gesagt, dass Ihr Geschäftsmodell, so viel selber entwickeln zu wollen, „eine Bedrohung für den ein oder anderen Zulieferer“ sei. Seitdem kamen immer wieder Ankündigungen über neue Kooperationen, etwa mit Bosch. Hat sich da intern etwas in Ihrem Denken verändert?
Wir haben eine Kooperation und trotzdem werden wir in den Wettbewerb gehen. Der Weg bis zum autonomen Fahren ist so steinig, dass man auf dem Weg dahin Partnerschaften eingehen muss. Nur so stellen wir sicher, dass die sicherste Lösung in den Fahrzeugen angeboten wird. Wir haben also nun mit Bosch eine Lebensabschnittspartnerschaft. Wir brauchen einander jetzt, werden aber später auch Wettbewerber sein. Da ist auch bei uns eine Lernkurve dabei gewesen, denn Talente sind sehr heiß umkämpft, zum Beispiel beim System on Chips. Solche Teams kann man gar nicht einzeln aufbauen, sondern man muss sie kaufen.  

Bleibt es bei Ihrem Ziel, 2025 rund 60 Prozent der Software selber zu entwickeln?
Ja, im Durchschnitt wird das die Zahl sein. Obwohl das in jedem Feld anders aussieht. Denn es gibt Bereiche, in denen wir sogar alles selber machen müssen, um nicht hinter dem Wettbewerb zurückzufallen. Wichtig ist das zum Beispiel in China. 

Wie viel Prozent der Entscheidungen werden von den Menschen getroffen, die die Kompetenz haben?
Zu wenig. Wir haben noch Potenzial darin, in die Teams zu delegieren. 

Entgeltumwandlung Lohnt sich betriebliche Altersvorsorge?

Einen Teil des Gehalts für betrieblich Altersvorsorge einsetzen: Rechnet sich das? Und: Geht es auch mit Aktien? Eine Fallanalyse.

Rezept zum Reichwerden? Das steckt hinter dem System von Deven Schuller

Ein selbsternannter Finanzexperte will seinen Kunden laut eigener Aussage dabei helfen, finanzielle Freiheit zu erreichen, und pflastert das Internet mit Werbung. Was steckt dahinter? Ein Selbstversuch.

Freiberufler-Report So viel verdienen Selbstständige in Deutschland

Zwei Euro mehr pro Stunde – und kaum noch ein Gender Pay Gap: Selbstständigen geht es auch in der aktuell schwierigen Lage recht gut. In welchen Bereichen sie am meisten verdienen.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Falls Sie wider Erwarten doch scheitern: Wie sieht es mit Partnerschaften mit anderen Autobauer aus?
Ich denke nicht in solchen Kategorien und spekuliere auch nicht. Wir sind dem Erfolg verpflichtet. Branchenpartnerschaften allgemein aber kann es in bestimmten Bereichen geben. Die Autoindustrie unterhält sich, natürlich nur im kartellrechtlich zulässigen Rahmen, wo Software nicht differenzierend ist. Es könnte, anders als in der Vergangenheit, Zeitfenster für eine Zusammenarbeit etwa mit anderen Autoherstellern geben. Wir haben uns verändert, dazugelernt und andere Autohersteller auch.

Lesen Sie auch: Software-Panik bei VW - Schafft Chef Herbert Diess die Wende?
 

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%