Air Berlin Die Hintergründe des spektakulären Insolvenzverfahrens

Das spektakulärste Insolvenzverfahren der vergangenen Jahre steuert auf das Finale zu. Was hinter den Kulissen der umstrittenen Rettungsmission wirklich geschah.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Deutscher Journalistenpreis für Henryk Hielscher und Rüdiger Kiani-Kreß: Die beiden WirtschaftsWoche-Redakteure wurden Donnerstagabend in Frankfurt vor rund 200 geladenen Gästen für ihren Beitrag „Ende der Legende", der am 19. Januar 2018 in der WirtschaftsWoche erschienen ist, mit dem Deutschen Journalistenpreis (djp) in der Kategorie ‚Mobilität & Logistik‘ ausgezeichnet. Mit dem Preis würdigt die Jury die Bedeutung, die ein engagierter und qualifizierter Journalismus für das Verständnis der Strukturen und Entwicklungen in der Wirtschafts- und Finanzwelt hat. Der Preis wird in sieben Kategorien vergeben, darunter Banken und Versicherungen, Vermögensverwaltung, Logistik, Bildung und Arbeit. Insgesamt hatten sich 409 Journalisten mit 475 Beiträgen beworben.
Herzlichen Glückwunsch! Nachfolgend können Sie den Sieger-Text frei zugänglich lesen:

Servierwagen parken in Reih und Glied. Plastikfolien bedecken blau gepolsterte Sitzreihen, daneben stapeln sich Kartons voller roter Schokoherzen. Es sind die letzten Überbleibsel von Air Berlin, die hier in einer Lagerhalle am Essener Stadtrand zur Abholung bereitstehen. Das Inventar der Fluglinie wird derzeit online versteigert. Es ist der emotionale Abschied von Deutschlands zweitgrößter Fluglinie.

Der rationale Abschied folgt am kommenden Mittwoch und Donnerstag, wenn die Gläubiger im Berliner Estrel Congress Center Einblick erhalten in die Unternehmenshavarie. 3,8 Milliarden Euro Umsatz, 9100 Beschäftigte, gut eine Million Gläubiger, bis zu fünf Milliarden Euro Außenstände: Das sind die Zahlen hinter der Insolvenz. Doch es geht um mehr. Der Fall ist ein Politikum, um den sich von Anfang an wilde Verschwörungstheorien ranken: von einem politischen Komplott zu Gunsten der Lufthansa ist die Rede, die Airline sei gezielt in die Pleite geschickt worden statt sie zu retten.

Die WirtschaftsWoche hat recherchiert, wie die Milliardenpleite wirklich ablief. Gestützt auf interne Gutachten, E-Mails und Akten, ergänzt um die Aussagen beteiligter Manager, Investoren und Sanierer, ergibt sich ein ganz anderes Bild, von der wohl heikelsten Rettungsmission der deutschen Wirtschaftsgeschichte.

Letzter Aufruf

Die beiden Männer sind bester Dinge, als sie Mitte Juli 2017 in eine klimatisierte Limousine steigen, die sie zu ihrem Flug von Abu Dhabi nach Berlin bringt. Sie wissen zwar, dass die Sessel an Bord ihres Air-Berlin-Jets nicht so bequem sind wie die hellen Ledersitze im Fond des Wagens, und auch die Verpflegung wird nicht mithalten können mit den Speisen in den Hotels und Restaurants des Emirats am Persischen Golf. Doch ihre Mission scheint geglückt. Die Reise war „ein großer Erfolg“, versichern sich Air-Berlin-CEO Thomas Winkelmann und sein Finanzchef Dimitri Courtelis gegenseitig. Besonders ein Satz klingt nach: „Wir tun alles, Air Berlin in einen sicheren Hafen zu führen“, hat ihnen Mohamed Mubarak Fadhel Al Mazrouei, Verwaltungsratschef des Air-Berlin-Hauptaktionärs und wichtigsten Geldgebers Etihad, zugesichert.

Das beruhigt, schließlich hatte sich die Lage der seit Jahren kriselnden Airline zuvor nochmals verschlechtert. Probleme bei der Abfertigung an ihrem Hauptflughafen Berlin-Tegel hatten für so viele Verspätungen gesorgt, dass selbst Fans und Geschäftskunden lieber die teurere Lufthansa buchen. Und die einst enge Verbindung ins Etihad-Reich bröckelt, seit Al Mazrouei die Führung kaltgestellt hat. „Man kennt ja fast keinen mehr“, klagt Courtelis, der vor Air Berlin fünf Jahre für die Linie gearbeitet hat. „Aber wenn die Hoheiten ihr Wort geben, kann man sich darauf verlassen“, machen sich die Manager Mut.

Keinen halben Monat später werden beide eines Besseren belehrt. Zuerst fordert der neue Etihad-Chef Ray Gammell ein aktuelle Schätzung des Geldbedarfs an. Courtelis meldet, dass er wie erwartet spätestens Ende August wieder 50 Millionen Euro braucht. Das sollte kein Problem sein. Etihad hatte den Berlinern im April eine Kreditlinie über 350 Millionen Euro eingeräumt, von der noch 100 Millionen Euro offen sind. Und so fordert der Kassenwart der Berliner die 50 Millionen am Morgen des 9. August an.

Die Überraschung kommt gegen Mittag. „Wir können das Geld nicht anweisen“, heißt es da in einer Mail. „Grund sind fehlende Ziehungsvoraussetzungen.“ Courtelis geht sofort zu Winkelmanns Büro ein paar Türen weiter auf der Vorstandsetage der Berliner Zentrale. Sie reden kurz. Dann ruft Winkelmann in Abu Dhabi an. Wenig später folgt eine weitere Nachricht: Man sei „bereit, einen Brückenkredit zu zahlen unter veränderten Bedingungen“, heißt es darin. „Aber auch andere Interessengruppen müssen einen Beitrag“ leisten, fordert Gammell und zielt damit auf die deutsche Politik und die Lufthansa, die von Air Berlin fast 40 Flugzeuge inklusive Besatzung für ihre Billigtochter Eurowings mietet und dafür ein paar Hundert Millionen Euro angezahlt hat. Aus vielen Gesprächen mit den Regierungen von Bund, Nordrhein-Westfalen und Berlin in den vergangenen Monaten weiß Winkelmann: Von denen hat er nichts zu erwarten. Und wie er Lufthansa-Chef Carsten Spohr kennt, wird der kaum spendabler sein. Mit einem unguten Gefühl ruft Winkelmann in Abu Dhabi an. Doch Gammell lässt sich nicht umstimmen. Winkelmann seufzt und ruft Spohr an. Der oberste Lufthanseat block ab. Man könne höchstens über ein paar Kleinigkeiten reden.

Vor der Insolvenz

Etihad-Chef Gammell reagiert nicht minder deutlich. In einem kurzen Schreiben an Air-Berlin-Finanzer Courtelis am 11. August lehnt er das Lufthansa-Angebot ab. Ab sofort werde Etihad Air Berlin kein Geld schicken.

Sofort trommelt Courtelis den Vorstand zusammen, auch Chefjuristin Michelle Johnson ist dabei. „Wir haben keinen Going Concern mehr“, eröffnet Courtelis die Runde, und auch Nichtjuristen wie Technikchef Oliver Iffert in der Runde wissen: Das Schicksal von Deutschlands zweitgrößter Airline ist an diesem Freitagnachmittag besiegelt. Air Berlin steht vor der Insolvenz.

Nur das Wochenende bleibt zur Vorbereitung. Eilig suchen Winkelmanns Manager Kontakt zu den Juristen der Wirtschaftskanzlei Freshfields, die Air Berlin seit Jahren begleiten. Anschließend ruft Winkelmann Spohr an. „Dann gingen ein paar der irresten Tage los, die ich je erlebt habe“, erinnert sich der Lufthansa-Chef.

Herren des Verfahrens: Insolvenzverwalter Flöther (l.) und Generalbevollmächtigter Kebekus haben den Flugbetrieb von Air Berlin vor dem Verkauf am Leben erhalten.

Die Freshfields-Juristen melden sich gegen 22.30 Uhr beim Düsseldorfer Sanierungsexperten Frank Kebekus, der eigentlich am nächsten Tag ins Rheingau aufbrechen wollte. Der Jurist hat Hunderte Unternehmen durch die Pleite gesteuert, gilt in der Branche als bestens verdrahteter Verhandlungsprofi und soll nun als Generalbevollmächtigter von Air Berlin ein Manöver absolvieren, das es bei Airline-Insolvenzen in Deutschland anders als in den USA bis dato nicht gab: Trotz Pleite soll Air Berlin weiterfliegen. Doch dafür muss die Politik mitspielen.

Am gleichen Abend informiert Winkelmann Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU), dass Air Berlin Insolvenz beantragen muss und die Flugzeuge am Boden bleiben, wenn nicht schnell eine Lösung gefunden wird. Gut eine Million Urlauber drohen überall auf der Welt zu stranden. Mitten im Bundestagswahlkampf. Nur unter zwei Voraussetzungen kann das noch abgewendet werden: Das Luftfahrt-Bundesamt muss überzeugt werden, dass es trotz Pleite keine Sicherheitsrisiken gibt, wenn Air Berlin weiterfliegt. Zum anderen müssen die wichtigsten Geschäftspartner, etwa die Flughafenbetreiber, beruhigt werden. Für beides braucht es Geld, das Air Berlin nicht hat. Der Staat soll einspringen. Dobrindt rotiert, ein Krisentelefonat folgt dem nächsten.

Die Chronik von Air Berlin

Ausgerechnet der Tagungsraum mit dem Namen Abu Dhabi wird auf den Vorstandsfluren der Air-Berlin-Zentrale zum War Room umfunktioniert, zur Leitstelle, in der alle Informationen zusammenlaufen. Hinter der breiten Fensterfront ist der Fernsehturm zu erkennen, an den dunklen Holztischen ist Platz für die Wirtschaftsprüfer von KPMG sowie die Juristen von Freshfields, Finkenhof und BRL. Als am Montagmorgen die ersten Angestellten Gebäude 3 betreten, wundern sich selbst die beratererprobten Air Berliner über die „Anzugdichte“. Jetzt muss es schnell gehen.

Dringt die Nachricht nach draußen, dass Air Berlin vor der Pleite steht, würden Flughäfen die Maschinen nicht mehr starten lassen, Buchungsdienstleister keine Tickets mehr verkaufen. Der Flugbetrieb bräche zusammen. Immer wieder telefonieren Kebekus und Winkelmann mit Dobrindt und Wirtschaftsstaatssekretär Matthias Machnig. Immer wieder gibt es Verzögerungen. Erst am Abend ist sicher, dass 150 Millionen Euro der bundeseigenen KfW-Bank an Air Berlin fließen sollen. Das Unternehmen muss mehr als neun Prozent Zinsen zahlen und als Sicherheiten so gut wie alle verbliebenen Werte an die KfW verpfänden: Start- und Landerechte, die Beteiligung am österreichischen Ferienflieger Niki und an der Luftfahrtgesellschaft Walter. Reicht das aus? „Wir können mit großer, großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass der Steuerzahler, das nicht bezahlen muss“, wird Bundeskanzlerin Angela Merkel später in die Kameras sagen. Ein Satz mit Folgen, auch wenn zunächst alles nach Plan läuft.

Die Startphase

Winkelmann reicht am Morgen des 15. August beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg Insolvenzanträge für die drei zentralen Air-Berlin-Gesellschaften ein. Zu diesem Zeitpunkt brettert Lucas Flöther bereits im Mietwagen auf der A 9 Richtung Berlin. Der Jurist – 44 Jahre, kurz geschorenes Haar, markante Brille – gehört zu den bekanntesten Insolvenzexperten. Er hat den Onlinekonzern Unister und den Fahrradbauer Mifa durch die Pleite manövriert. Flöther wird dem Gericht als sogenannter Sachwalter vorgeschlagen, der in dem Verfahren dafür sorgen soll, dass die Interessen der Gläubiger gewahrt werden. Punkt 13.22 Uhr ist es so weit. Die zuständige Richterin bestellt Flöther. Das Verfahren mit dem Aktenzeichen 36a IN 4295/17 beginnt – und auch die Probleme. Kaum ist die Nachricht draußen, meutern Leasinggeber von Flugzeugen, Kreditkartenfirmen weigern sich, Kundenzahlungen an Air Berlin weiterzuleiten. Doch das Kunststück gelingt. Air Berlin fliegt weiter.

An Schlaf wagen die Experten im „War Room“ kaum zu denken an den ersten Tagen. Kaffee gibt es aus Air-Berlin-roten Pappbechern, Kalorien liefern wahlweise ein fragwürdiger Brötchenautomat im Nachbargebäude oder das Schnitzel Country vom Adria-Grill ums Eck. Zugleich bringen sich Kritiker in Stellung. Der lauteste ist Michael O’Leary, Chef der irischen Billiglinie Ryanair. Der Flug-Zampano mit Hang zu vulgären Sprüchen wittert ein Komplott. Es gehe nur darum, Ryanair daran zu hindern, in Deutschland weiter zu wachsen.

Läuft das Verfahren also direkt auf die Lufthansa zu, wird der Marktführer von Anfang an bevorzugt? Wenige Tage nach dem Insolvenzantrag sitzen Kebekus und Flöther in einem Konferenzraum in der sechsten Etage der Air-Berlin-Zentrale und beantworten die Fragen der WirtschaftsWoche. Ihre Augenränder verraten die 20-Stunden-Schichten, dennoch wirken beide angriffslustig: „Das sind Verschwörungstheorien“, sagt Kebekus. Die Politik nehme „auf den Verkaufsprozess keinen Einfluss“. Keine Einflussnahme? Kurz zuvor hat sich Verkehrsminister Dobrindt für die Lufthansa als Käufer „wesentlicher Teile“ von Air Berlin ausgesprochen: „Wir brauchen einen deutschen Champion im internationalen Luftverkehr.“ Jeder seriöse Kandidat könne ein Angebot abgeben. „Das einzige Problem ist die Zeit“, so Kebekus. Ein Player wie die Lufthansa, die schon vor dem Insolvenzantrag am Tisch saß, habe damit automatisch einen Informationsvorsprung.

Bescheidener Anfang: Air Berlin im Gründungsjahr 1980. (Zum Vergrößern bitte anklicken) Quelle: Presse

Auf Reiseflughöhe

Tatsächlich ist Spohr am besten vorbereitet. Er hat im Sommer 2016 ein Team unter Führung seines Strategiechefs William Willms eingesetzt. Rund 100 Leute haben in einem mit strengen Zugangscodes gesicherten Teil der Konzernzentrale Varianten des Air-Berlin-Dramas durchgespielt. Teil der Planung ist enger Kontakt zu Etihad. „Wir sind immer recht gut informiert gewesen, weil wir mit Etihad im Dialog waren“, erklärt Spohr später. Von den Kartellämtern fürchtet er keinen Gegenwind. „Wir können unseren Anteil noch kräftig aufstocken. Das halten unsere Juristen für genehmigungsfähig“, erzählt er im kleinen Kreis. „Was auch passiert, wir sind vorbereitet“, beschreibt ein Mitglied des Aufsichtsrats die Stimmung.

Auch wenn alle Beobachter einen Verkauf an Lufthansa erwarten, ist das Interesse enorm. Nicht weniger als 79 Interessenten melden sich bis zum 15. September und kommen in die Firmenzentrale am Saatwinkler Damm, teilweise mehrfach. Das verlangt dem Team um Flöther, Kebekus und Winkelmann eine logistische Meisterleistung ab. „Damit alles vertraulich bleibt, durften sich die einzelnen Gruppen nicht begegnen auf ihrem Weg zwischen Eingang, den Konferenzräumen und den Büros des Führungstrios“, so einer der Beteiligten. „Also mussten wir morgens festlegen, wen wir wann an welcher Tür abholen und wie durch die drei Verhandlungsetagen führen.“

Harte Landung

Die Bandbreite der Bieter ist groß: Private-Equity-Gesellschaften, Fluglinien, Staatsunternehmen, alles „von superseriös bis völlig verrückt“, sagt Kebekus. Viele nutzen die Medien, „um sich selbst im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu positionieren“, resümiert Flöther in seinem Insolvenzgutachten für das Amtsgericht Charlottenburg. „Keiner dieser Interessenten hat ein den im Prozessbrief definierten Erfordernissen entsprechendes Angebot abgegeben.“ Am Ende bleiben 15 Investoren. Doch vier Offerten entsprachen „nicht den … Erfordernissen oder waren aus anderen Gründen nicht umsetzbar“, so Flöther im Insolvenzgutachten.

Selbst mit dem nach der Lufthansa größten Bieter Easyjet hatten es die Airlineverkäufer nicht leicht. Zwar hatte sich die Linie aus London bereits im April 2016 das erste Mal die Bücher der Berliner angesehen. Doch bereits am ersten Tag der Verkaufsverhandlungen wollten die Briten wieder umkehren, weil vor der Tür die Beschäftigten protestierten. Dazu berichten Verhandlungsteilnehmer, die Briten seien einmal gar in einer Verhandlungspause unangekündigt abgereist. Dafür beschäftigten sie die Air-Berlin-Führung auch abseits der Verhandlungen. So soll Finanzchef Andrew Findlay an mehreren Samstagen Winkelmann und Co. per SMS beschimpft haben.

Aber auch im Flugbetrieb von Air Berlin häufen sich die Probleme. Die Linie verliert fast drei Millionen Euro pro Tag, rund drei Mal so viel wie zuvor. Aus Angst vor der Pleite bucht fast kein Kunde mehr, obwohl Air Berlin ihre Tickets zu Kampfpreisen anbietet – „und uns damit die Preise kaputt macht“, klagt ein Konkurrent. Zudem zehrt ein mehrtägiger Pilotenstreik bei TUIfly, die für Air Berlin jeden Tag ein paar Dutzend Flüge macht. Gleichzeitig wird der Flugplan dünner. Nachdem die Linie aus Mangel an Personal bereits seit dem Frühjahr die Zahl ihrer Flüge um gut zehn Prozent runterfahren musste, kollabiert ab Mitte September die Langstrecke, weil die Vermieter nun ihre Maschinen zurückfordern – teilweise mit nur zwei Tagen Vorwarnung. So sind am Ende selbst treue Fans ein wenig erleichtert, als am 28. Oktober der letzte Flug abhebt.

Partys statt Sanierung: Ex-Air-Berlin-Chef Hunold gab das Geld mit vollen Händen aus und versorgte Promis mit Freiflügen. Quelle: dpa

Harte Landung

Mit rund einer Stunde Verspätung setzt Flug AB 6210 in Berlin Tegel auf. Aus den Bordlautsprechern schmettern Tenor Andrea Bocelli und Musicalstar Sarah Brightman „Time to say goodbye“. Die Flughafenfeuerwehr verabschiedet sich mit Wasserfontänen. Schon während des Flugs herrschte eine Mischung aus Wehmut und Partystimmung. Die Air-Berlin-Hymne erklang und auf Platz 1C sang Joachim Hunold – das Handy im Selfiemodus – mit: „Flugzeuge im Bauch, im Blut Kerosin, kein Sturm hält sie auf, unsere Air Berlin.“ Unter Hunolds Ägide war Air Berlin nach der deutschen Wiedervereinigung vom kleinen Charterflieger zur zweitgrößten Fluggesellschaft Deutschlands aufgestiegen. Aber unter ihm begann auch ihr Niedergang. Die Airline kaufte jede Menge anderer Linien wie DBA, LTU oder Niki, doch sie sanierte und vereinte die Teile nicht. Stattdessen gab der in der Branche nur als „der Achim“ bekannte Hunold das Geld mit vollen Händen aus und versorgte Promis im großen Stil mit Freiflügen. Hunold sieht das bis heute als Marketingmaßnahmen. Insolvenzsachwalter Flöther hat indes Prüfer von PwC Forensics beauftragt, die Bücher nach Auffälligkeiten oder gar dubiosen Geschäften zu durchforsten. Doch der Blick zurück hat Zeit, akute Probleme drängen auf seine Agenda. Brüssel sträubt sich gegen den Lufthansa-Deal.

Projekt Wiederauferstehung

Trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – Spohrs Zuversicht hatte die DG Comp genannte EU-Wettbewerbsbehörde durchblicken lassen, dass eine Genehmigung der Lufthansa-Pläne extrem schwierig werden würde. Vor allem am Zuschlag für den Urlaubsflieger Niki reiben sich die Wettbewerbshüter. Als nach dem letzten Flug von Air Berlin die Ticketpreise steigen, fühlen sie sich bestätigt. Auch der selbstbewusste Auftritt der Lufthanseaten kommt in Brüssel schlecht an. Der Streit eskaliert, als EU-Kommissarin Margrethe Vestager der Lufthansa via „Bild“ wettbewerbsrechtlich bedenkliche Absprachen vorwirft. Spohr revanchiert sich und zieht Mitte Dezember seine Offerte für Niki zurück. Die Übernahme platzt und mit ihr der Kaufpreis von 150 Millionen Euro, aus dem der Überbrückungskredit der KfW-Bank zurückgezahlt werden soll. Niki folgt nun dem Schicksal ihrer Muttergesellschaft. Flöther wird vorläufiger Insolvenzverwalter, muss sich um gestrandete Niki-Urlauber kümmern – und einen neuen Verkauf starten. Wieder drängt die Zeit. Wieder melden sich Interessenten lautstark zu Wort. Wieder gelingt der Verkauf. Und wieder kommt alles ganz anders.

An einem Samstagmorgen Mitte Januar sitzt Flöther in seiner Kanzlei in Halle und ringt um die richtigen Worte. „Sie sehen mich sprachlos“, sagt Flöther. Alle paar Minuten surrt sein Blackberry, dann ist von Verstößen gegen das europäische Insolvenzrecht die Rede. Tags zuvor musste Flöther beim Landesgericht im österreichischen Korneuburg antreten, wo der Richter die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens über Niki in der Alpenrepublik verkündete und eine Wiener Anwältin als Verwalterin einsetzte. Flöther war fassungslos. Schließlich lief bereits das Verfahren in Deutschland und mit der British-Airways-Mutter IAG war ein Käufer gefunden. Jetzt muss der Bieterprozess im Eiltempo wiederholt werden. Spätestens kommende Woche soll sich abzeichnen, wohin die Reise geht – auch für die Gläubiger von Air Berlin.

So hat Tegel Air Berlin verabschiedet
Touchdown in TegelUm 23.58 Uhr setzte die Maschine in Berlin auf. Der letzte Flug mit Kennung „AB“. Quelle: REUTERS
Ehrenrunden über BerlinDie Flugroute über Berlin diente dazu, als wirklich letztes Flugzeug zu landen. Die Schleifen deuteten viele als die Form eines Herzens. Quelle: dpa
Joachim HunoldMit an Bord: der ehemalige Geschäftsführer der Fluggesellschaft und Mitglied im Verwaltungsrat, Joachim Hunold. Er hatte in 20 Jahren an der Konzernspitze aus einer Mini-Gesellschaft mit zwei Flugzeugen die Nummer zwei in Deutschland gemacht, in ihrer Hochzeit mit mehr als 35 Millionen Passagieren und vier Milliarden Euro Jahresumsatz. Der heute 68-jährige Düsseldorfer war es aber auch, der seine Firma durch Zukäufe und schnelles Wachstum in eine komplexe Struktur und Kostenfalle trieb, aus der sie nie wieder herauskam. Quelle: dpa
Ende eines Kapitels deutscher WirtschaftsgeschichteNach 39 Jahren mit teils rasantem Wachstum endet die Zeit von Air Berlin. Der letzte Flieger in Berlin-Tegel wird am späten Freitagabend gebührend empfangen. Quelle: REUTERS
Gruß der FlughafenfeuerwehrMit Wasserfontänen wird normalerweise die Ankunft einer neuen Fluggesellschaft an einem Airport gefeiert - jetzt gilt die Geste einem letzten Flug. Quelle: dpa
Spalier zum AbschiedAir-Berlin-Mitarbeiter nehmen Crew und Passagiere von AB6210 in Empfang. Quelle: dpa
„Unsere AB“Ein Schluck Sekt auf das Ende der Airline. Flug AB6210 ist der letzte mit Air-Berlin-Kennung, der auf einem Flughafen gelandet ist. Quelle: dpa

Fast 5000 Plätze bietet der Saal im Congress Center. Zuletzt stand hier ein ukrainischer Wunderheiler auf der Bühne. Wenn Flöther und Kebekus ihren Bericht vorstellen, erwartet wohl niemand ein Wunder. Selbst der KfW-Kredit kann trotz aller Sicherheiten nur teilweise zurückgezahlt werden. 75 bis maximal 100 Millionen Euro seien zu erwarten, heißt es intern. Nur falls sich Schadensersatzansprüche gegen Etihad etwa wegen der nicht eingehaltenen Kreditzusagen durchsetzen ließen, könnte es auch mehr werden. Der Tagungsraum Abu Dhabi wurde derweil in TXL, das Flughafenkürzel für Tegel, umgetauft. Entsprechende Klagen dürften sich jedoch über Jahre hinziehen.

Schneller will der Insolvenzverwalter eine andere Geldquelle auftun: Er plant den Verkauf der Markenrechte und Hunderter Internetadressen und hofft auf „einen ordentlichen Preis“. Schriftzug und Logo von Air Berlin seien „extrem bekannt und beliebt bei den Kunden“, sagt Flöther. Die ersten Interessenten hätten sich bereits gemeldet. Das Projekt Wiederauferstehung läuft an.

Teilen:
  • Teilen per:
  • Teilen per:
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%