Nach Jahren des beinahe uneingeschränkten Erfolgs mit dem Videostreaming musste Netflix seinen Anlegern am Mittwoch am kalifornischen Firmensitz in Los Gatos ernüchternde Zahlen präsentieren: In den USA, dem Heimatmarkt von Netflix, hat das Unternehmen in den drei Monaten bis Ende Juni 130.000 Kunden verloren. Zwar konnten weltweit immer noch 2,7 Millionen neue Bezahlabonnements verbucht werden. Doch Netflix selbst hatte den Aktionären mit fünf Millionen fast doppelt so viele in Aussicht gestellt. Der Hauptgrund für das deutliche schwächere Wachstum dürften Preissteigerungen sein, die neben den US-amerikanischen Kunden auch unteranderem die deutschen Nutzer zu spüren bekamen. Das Erfolgsmodell von Netflix bekommt allmählich Risse.
Und die könnten demnächst sogar weitaus größer werden: Denn Streifen wie Die Schöne und das Biest, Star Wars, Iron Man, Mulan, Titanic und Avatar haben mehr gemein, als das auf den ersten Blick scheinen mag. Abgesehen davon, dass es allesamt wahnsinnig erfolgreiche Filme sind, gehören sie zur Walt Disney Company. Und: Sie sind auf Netflix zu sehen. Zumindest noch. Das könnte sich bald ändern, wenn Disney eine eigene Streaming-Plattform mit dem Namen Disney+ auf den Markt bringt.
Diese hat das Unternehmen im April erstmals detailliert vor Investoren und auf Twitter vorgestellt. Angekündigt hat Disney ein eigenes Engagement auf dem beständig wachsenden Markt für Videostreaming schon 2017. Seitdem habe das Projekt bei Disney oberste Priorität, verkündete Chef Robert Iger damals. Der Start von Disney+ ist in den USA nun für den 12. November 2019 angesetzt. Europa soll kurz darauf folgen, innerhalb von zwei Jahren sollen alle weltweit relevanten Regionen erschlossen sein.
Der eigene Dienst soll ein Pendant bilden zu Netflix, Amazons Prime Video und Apples erst kürzlich vorgestelltem Produkt Apple TV+, das im Herbst starten soll. Doch statt wie Netflix dabei auf Filme und Serien verschiedenster Produktionsfirmen zu setzten, soll es auf Disney die Inhalte aus dem eigenen Haus geben. Mehr als zehn Jahre nach dem Start von Netflix geht Disney damit eine ziemlich riskante Wette ein – der Erfolg ist keinesfalls garantiert. Wenn die Wette allerdings aufgeht, ist das Geschäftsmodell von Netflix mehr als bedroht. Denn Disney ist nicht allein: Auch andere Unternehmen der Entertainmentbranche haben eigene Pendants zu Netflix angekündigt.
Noch ein Dienst mehr
Neue Dienste bedeuten für Netflix und Co. ganz grundlegend natürlich erst einmal einen Konkurrenten mehr und für Verbraucher im Umkehrschluss ein Angebot mehr. Doch braucht es das überhaupt? „Für Nutzer wäre ein Angebot, das alles anbietet, natürlich optimal – doch das wird es niemals geben“, erklärt Florian Kerkau, Geschäftsführer des Berliner Beratungs- und Marktforschungsunternehmen Goldmedia. „Deshalb müssen sie sich entscheiden. Und durchschnittlich haben Verbraucher zwei bis drei Streaming-Abonnements.“
Disney+ schickt sich nun an, eines dieser Abos zu werden. Keine leichte Aufgabe. Damit Disneys Plan dennoch aufgeht, kommt es laut Kerkau auf die Inhalte an. Und hier könnte Disney+ tatsächlich punkten. Denn neben Disneys eigenen Animationsfilmen wie Aladdin, Arielle oder Mulan produzieren Tochterunternehmen wie die Marvel Studios, die ABC Studios und seit Ende März auch 20th Century Fox für die Walt Disney Company auch andere Filme. Das auf den ersten Blick klein wirkende Portfolio der familienfreundlichen Filme wird so um Filmikonen wie Darth Vader, die Avengers, Deadpool oder den von Brad Pitt gespielten Tyler Durden aus Fight Club drastisch erweitert. Disney+ könnte dadurch viel mehr sein als nur ein weiteres Angebot unter vielen.
Neue Eigenproduktionen entscheiden über den Erfolg
Damit das gelingt, braucht es mehr als die altbekannten Inhalte: „Alte Filme sind zwar Disneys Schatz. Doch ich glaube kaum, dass ein Film wie Cinderella viele Nutzer dazu bringt, einen monatlichen Beitrag für Disney+ zu zahlen.“ Und erst recht nicht, wenn diese Nutzer womöglich seit Jahren Abonnenten von Netflix oder Amazon Prime sind. „Es wird ganz besonders auf neue Produktionen ankommen, die exklusiv bei Disneys Dienst gezeigt werden“, erklärt Kerkau.
Und Disney ist offenbar vorbereitet: So sind für Disney+ unter anderem „neue Geschichten aus den Universen der Monster AG und High School Musical“ angekündigt – wie das Unternehmen auf der Webseite bekanntgab. „The Mandalorian“ nennt sich eine angekündigte Serie aus dem Star-Wars-Universum, die Star-Produzent Jon Favreau für Disney+ anfertigt.
Eigenproduktionen haben auch Netflix und Amazon Abonnenten beschert: Seien es Narcos und Stranger Things bei Netflix oder The Grand Tour bei Amazon. „Die Eigenproduktionen haben sicher einen hohen Anteil an der Beurteilung der Qualität eines Portals“, erklärt Philipp Schneider, Head of Marketing beim Marktforschungsinstitut YouGov. „Bei Netflix sind sie tatsächlich sehr hochwertig, das schlägt sich auch in der Wahrnehmung der Marke nieder. In unserem Marktmonitor BrandIndex ist Netflix bei der Qualität das bestplatzierte Streaming-Portal, das kostenpflichtig ist.“
Jetzt droht ein Preiskampf
Neben den Inhalten dürfte der Preis entscheiden. Und hier eröffnet Disney den Kampf gleich recht sportlich: 6,99 Dollar werden in den USA monatlich fällig, ein Jahresabo kostet 69 Dollar. Hierzulande starten die Netflix-Abos bei einem Preis von 7,99 Euro im Monat, dann aber nur in mittelmäßiger Bildqualität. Das teuerste Abo mit vier Accounts samt Ultra-HD-Bildqualität kostet schon 15,99 Euro. Sollten die Preise von Disney+ in Deutschland ähnlich ausfallen wie in den USA, würde das Abo selbst bei monatlicher Zahlung weniger als halb so viel kosten wie das Premium-Abo des großen Konkurrenten. Bei Disney+ ist in der einzigen Preisoption ebenfalls 4k-Streaming enthalten.
Gerade dort war die Konkurrenz allerdings ziemlich gut aufgestellt: „Netflix gelingt es sehr gut, sich im deutschen Markt zu positionieren. Ein Blick in den BrandIndex zeigt, dass die Marke Netflix momentan zu den am besten performenden Streaming-Anbietern zählt. Unter Markenkennern ist Netflix im Bereich Preis-Leistung gar die Nummer eins unter den kostenpflichtigen Streaming-Angeboten. Dahinter folgt Prime Video von Amazon.“ Ob das bei den gestiegenen Preisen auch noch so sein wird, ist offen. Bei der letzten Preiserhöhung in Deutschland 2017 kam Netflix zumindest ohne Nutzerverlust davon. Doch den aktuellen Nutzerverlusten in den USA waren im Januar Preissteigerungen vorausgegangen.
„Finanziell wäre es für Disney kein Problem, Netflix bei den Preisen zu unterbieten und so Kunden zu locken. Allerdings kann Netflix das bei fast 150 Millionen Abonnenten genauso gut – so droht ein wahrer Preiskampf auf dem Streaming-Markt“, erklärt Florian Kerkau. Den längeren Atem hätte seiner Einschätzung nach Netflix, dank eines beachtlichen Vorsprungs. Doch mit der Zeit wird dieser Vorsprung deutlich kleiner werden. „Ich schätze, dass wir in den kommenden fünf Jahren eine deutliche Konsolidierung des Marktes sehen werden“, sagt Kerkau.