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Leere Regale Quelle: imago images

Vom Ende des Wachstums – und der Renaissance des Marketings

Die derzeit häufigsten Wörter in den Nachrichten sind „einbrechen“ und „ansteigen“: Absatz und Konsumklima brechen ein; Preise und Inflation steigen an. Für Marken und ihre Wachstumsziele brechen jetzt dramatische Zeiten an.

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Wir leben wahrlich in historischen Zeiten. Was nach Aufbruchstimmung klingt, bedeutet in Wirklichkeit ein Drama für die künftige Entwicklung unserer Märkte und Marken. Das Konsumklima sinkt auf ein historisches Tief, ganze Märkte brechen ein. Die Inflation steigt auf immer neue Höhen, die Preise für Lebensmittel und Energie zwei- bis dreistellig. Mit einer solchen Ausnahmesituation hatten die meisten Marketer und Werber noch nie zu kämpfen.

Die Marktforscher der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) melden regelmäßig die Ergebnisse ihrer Erhebungen zum Konsumklima. Das geht mal ein wenig rauf, mal ein wenig runter – und ist selten eine Push-Nachricht wert. Ganz anders die aktuellen Daten. Noch im Februar hatte man eine Erholung der Verbraucherstimmung nach der Lockerung der Corona-Beschränkungen erwartet. Nun meldet GfK für den März, offenbar bedingt durch Krieg und Inflation, einen Wert wie er zuletzt während der Finanzkrise 2009 gemessen wurde.

Marketing-Börse verkündet die Rekord-Tiefs: „Der Krieg in der Ukraine hinterlässt bei der Verbraucherstimmung der Deutschen deutliche Spuren und führt im März zu einer erheblichen Eintrübung. Während die Anschaffungsneigung moderate Einbußen verzeichnet, brechen die Konjunktur- und Einkommensaussichten ein und verzeichnen teilweise neue Rekordtiefs... So prognostiziert GfK für das Konsumklima für April -15,5 Punkte und damit sieben Zähler weniger als im März dieses Jahres.“

Das zeigt sich besonders bei den Einkommensaussichten, die im März gegenüber dem Vormonat 26 Punkte verlieren und auf -22,1 Punkte abrutschen: „Das ist der niedrigste Wert seit Januar 2009, als infolge der Finanzkrise der Einkommensindikator auf -22,9 Zähler zurückging. Durch die stark gestiegenen Preise für Gas, Heizöl und Benzin sehen die Verbraucher ihre Kaufkraft dahinschmelzen.“ So macht die Inflation im März 2022 einen deutlichen Sprung auf 7,3 Prozent. Dies ist der höchste Wert seit 40 Jahren. Das Statistische Bundesamt meldet noch einmal mehr als bereits im Februar, der mit einer Inflationsrate von 5,1 Prozent die Richtung andeutete.

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Der Preis für Heizöl klettert auf geradezu historische Höchststände und legt um 99,8 Prozent zu. Bei Benzin und Diesel lag die Verteuerung bei 49 Prozent. Auch Lebensmittel verteuern sich im Schnitt um 7,5 Prozent, Fette und Öle um 20, selbst Gemüse um 14 Prozent. Doch damit nicht genug: Aldi kündigte zum Beginn der Woche erneute Preiserhöhungen an. Fleisch, Wurst und Butter würden dann „deutlich teurer“, sagte Aldi-Nord-Kommunikationschef Florian Scholbeck.

Als logische Folge prognostizieren die Wirtschaftsweisen für 2022 ein weitaus geringeres Wirtschaftswachstum als bisher angenommen: „Das Gremium korrigierte seine Prognose zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts von 4,6 Prozent auf nur noch 1,8 Prozent nach unten.“ Und man muss kein Hellseher sein, um vorherzusagen, dass auch diese 1,8 Prozent vermutlich nicht gehalten werden können. Das sich abzeichnende Problem könnte sich als ausgesprochen nachhaltig erweisen.

Ganze Märkte brechen ein

Das wiederum liegt an der Kauflust der Konsumenten. Nirgends zeigt sich das drastischer als im Automarkt, dem Herzstück der deutschen Industrie. Schon 2021 brach der Markt ein. Im vergangenen Jahr wurden nach Aussagen des Autoverbands VDIK nur noch 2,6 Millionen Pkw neu zugelassen – rund eine Million weniger als vor der Corona-Krise.

Für dieses Jahr rechnet der Verband der Automobilindustrie (VDA) mit 2,8 Millionen Pkw-Neuzulassungen und hofft auf einen leichten Aufschwung. Diese Absatzprognose liegt jedoch weit unter dem alten Niveau vor der Pandemie: Im Jahr 2019 waren über 3,6 Millionen Fahrzeuge in Deutschland neu zugelassen worden. Hier von einem Aufschwung zu sprechen, darf man mutig nennen – und selbst die 2022 geplanten Absatzzahlen sind noch lange nicht erreicht.

„Wir werden ärmer werden“

Angesichts gleichzeitig steigender Mieten verwundert es nicht, dass die Verbraucher Zurückhaltung an den Tag legen. Auch diese Entwicklung hat historische Bedeutung. Professor Scott Galloway, Autor des Bestsellers „The Four: The Hidden DNA of Amazon, Apple, Facebook and Google“, zeigte bei Twitter auf, dass die sogenannten „Millennials“ als erste Generation in den USA bislang kaum Wohneigentum aufzubauen vermochte. Die Millennials – und erst recht „Gen Z“ – werden die ärmsten Generationen, die es seit langem gab.



Vizekanzler Habeck brachte es im ZDF „heute-journal“ auf den Punkt: „Das muss man so klar sagen: Wir werden ärmer werden.“ Die vielfach ausgezeichnete Unternehmerin Sina Trinkwalder bringt es in einen noch größeren Kontext: „Dass wir ärmer werden, war ein Weg, der sich seit Jahren abzeichnete. Dieser begann, als wir uns als Gesellschaft in eine Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft entwickelten bei gleichzeitigem demographischem Wandel. Die gesamte physische Wertschöpfung wurde externalisiert. Die Denker hier, die Werkbank woanders. Das ist das gefährliche, denn es macht uns ärmer.“

Die Grenzen des Wachstums

Was aber bedeutet diese Entwicklung für die Marketing- und Werbebranche? Was macht Marketing ohne Wachstum? In Deutschland gibt es 868.000 Marken und zehntausende werbungtreibende Unternehmen. In fast jedem ihrer Marketingpläne steht als Ziel festgeschrieben, dass die Marke wachsen muss. Denn quantitatives Wachstum gilt als das alleinglückseligmachende Ziel unserer gesamten Wirtschaft – als Wohlstandsbarometer, der über die wirtschaftliche Gesundheit eines Unternehmens und seiner Marken entscheidet.

Es ist aber kein Wachstum in Sicht. Zum ersten Mal in der Geschichte des Marketings spüren wir die „Grenzen des Wachstums“. Dabei blendeten wir ohnehin stets aus, dass es auch in der Natur kein ewiges Wachstum gibt – außer vielleicht bei Krebszellen. Gewöhnen wir uns an den Gedanken, dass es mit dem permanenten Wachstum womöglich vorbei ist.

Die Bekämpfung der Klimakrise, der größten Herausforderung, der sich die Menschheit stellen muss, wird ganze Volksvermögen kosten – und den Wegwerfkapitalismus mit seinem bisweilen sinnlosen Konsum gewaltig drosseln. Von Staaten und Wirtschaft müssen enorme Investitionen zum Schutz von Mensch und Natur erbracht werden. Dadurch würden alle Waren inflationsbereinigt teurer werden als heute.

Prognosen für die Mülltonne

Marketing ohne Wachstum wird sich neuen Aufgaben stellen müssen. Marketingentscheider werden über anderes prahlen als über die Höhe ihrer Werbebudgets. Alle Agentur-Prognosen gehen davon aus, dass der Werbemarkt in diesem Jahr kräftig wächst. Das, werte Agenturen, wird er nicht. Eher wird die Organisation Werbungtreibende (OWM) recht behalten, dass ein Jahr der Stagnation vor uns liegt. Bestenfalls. Ebenso gut kann das Jahr ins Minus rutschen. Auch die Online-Vermarkter (OVK) erwarten weiterhin für 2022 einen signifikanten Anstieg der digitalen Werbung. Um zwölf Prozent soll sie auf 5,7 Milliarden Euro wachsen. Man darf zwar träumen, aber einen zweistelligen Anstieg wird es selbst für die digitale Werbung in diesem Jahr mit großer Wahrscheinlichkeit nicht geben.

Wiedergeburt des Marketings?

Der Werbemarkt wird sich statt mit Quantitäten mit Qualität beschäftigen. Mit Werten. Marketing wird sich an qualitatives Wachstum, an nachhaltiges Wirtschaften gewöhnen müssen. Dies ist eine große Chance für eine wahrhaftige Renaissance des Marketings. Sobald Marketing sich ernsthaft den Bedürfnissen der VerbraucherInnen widmet, wird es die ihm gebührende Bedeutung wiedererlangen. Wenn uns die Markenkommunikation wieder verrät, wozu eine Marke gut ist, warum es sie gibt, was sie unterscheidet und was ich als Käufer von ihr zu erwarten habe, dann ist Schluss mit sinnleeren Claims („Wir sind da“; „Das seid ihr“) und langweiliger, austauschbarer Werbung.

Man muss es positiv sehen: Es wird eine große Herausforderung für unsere Branche. Wenn Marken fit für eine nachhaltige Zukunft gemacht werden und qualitatives Marketing sich neu erfindet, dann sind die Besten gefragt: die besten Marken und die besten Architekten der Markenzukunft. Dann werden aus Chief Marketing Officers in Zukunft „Chief Visionary and Sustainable Quality Brand Architects“.

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