Kurt Bock hatte seinen Vortrag vor Studierenden der Universität Düsseldorf schon beendet, da kam die kritische Frage. Ein älterer Herr hob die Hand, er stellte sich als Aktionär vor. „Da interessiert mich natürlich der Aktienkurs“, sagte er. „Ich würde gerne wissen: Wann wird sich BASF verdoppeln?“ Kurt Bock antwortete prompt: „Und was ist die zweite Frage?“ Die Zuhörer im Saal lachten leise. Bock rutschte trotzdem unruhig auf seinem Sessel hin und her. Der Aktionär hatte Bocks Problem auf den Punkt getroffen, ohne es zu wissen.
Die BASF soll sich noch verdoppeln? Das scheint unmöglich. Einerseits, weil BASF bereits zu groß ist für solche Wachstumsschübe. Mit 57 Milliarden Euro Umsatz regiert Bock aus Ludwigshafen heraus das größte Chemieimperium der Welt. Andererseits scheint ein Vorstoß in neue Sphären schon deshalb unmöglich, weil BASF dafür der Antrieb fehlt. Der Konzern steckt in der Defensive fest.
Nun steht der weltgrößte Chemiekonzern vor einem Machtwechsel. Seit 2011 führt Kurt Bock den Konzern aus Ludwigshafen, eigentlich lief sein Vertrag noch bis 2021. Jetzt will Bock sein Amt vorzeitig niederlegen, um nach der gesetzlich vorgeschriebenen Abkühlungsphase von zwei Jahren dann 2020 den Aufsichtsratsvorsitz zu übernehmen. Bocks Nachfolger an der Spitze von BASF ist Martin Brudermüller.
Die beiden könnten unterschiedlicher kaum sein. Kurt Bock gilt als vorsichtig und eher unkommunikativ, er ist ein Zahlenmensch mit trockenem Humor, der sich nicht gerne erklärt. Brudermüller hingegen kommt aus Schwaben, er gilt als hemdsärmelig, zuweilen soll er eher zu fest zupacken als zu locker. Bock ist Betriebswirtschaftler und Finanzmarktexperte, Brudermüller hingegen ausgebildeter Chemiker. Traditionell haben die Letzteren im gigantischen BASF-Imperium eher das Sagen. Vor allem aber bringt Brudermüller eine Aggressivität mit, die Bock fehlt. Und vielleicht ist das genau das, was die BASF nun braucht.
Der Machtwechsel ist deshalb nur folgerichtig. Er gibt BASF die Möglichkeit, sich neu aufzustellen.
Bock ist an seinen eigenen Ansprüchen gescheitert
In den vergangenen Jahren ist die Königin der Chemie immer weiter in die Defensive gerutscht. Der Konzern baut seit 150 Jahren auf das Verbundskonzept: BASF will so gut wie jede Chemikalie in seiner Wertschöpfungskette selbst herstellen. Der Konzern fördert mit der Tochter Wintershall sein eigenes Öl, verarbeitet es weiter zu Grundchemikalien und stellt daraus dann Kunststoffe oder Lacke her. Auch jedes Abfallprodukt bei diesen Prozessen soll weiterverwendet werden.
Das führt dazu, dass BASF heute so breit aufgestellt ist wie kein anderer Chemiekonzern. Im Rest der Welt hat sich die Chemiebranche längst dazu entschlossen, sich zu konzentrieren. Bayer etwa besteht nur noch aus zwei Sparten: Dem Pharmazweig und der Agrarchemie. Die Übernahme von Monsanto soll Bayer in der Agrarchemie zum unangefochteten Weltmarktführer machen. Und auch in Nordamerika, im mittleren Osten und in Asien bauen Chemiekonzerne um. So haben sich die beiden US-Giganten Dow und Dupont vereinigt, um sich dann in drei einzelne Konzerne aufzuspalten. Im Nahen Osten soll der weltgrößte Ölförderer Saudi Aramco mit Sabic zusammenarbeiten, um das Öl bald auch in Chemikalien weiterzuverarbeiten. Und in China sollen Sinochem und Chemchina fusionieren – zusammen würden die beiden Chinesen selbst BASF in ihrer Dimension noch übertreffen.
Rund um Ludwigshafen herum entstehen Konkurrenten, jeder mit einer eigenen Strategie. Das Ziel ist bei allen dasselbe: Sie wollen der Größte in ihrem Bereich werden, der Weltmarktführer. Damit greifen sie die Königin der Chemie direkt an. Doch bisher fehlte der BASF darauf eine schlagfertige Antwort.
Tatsächlich ist Bock an seinen eigenen Ansprüchen gescheitert. Nach wenigen Monaten im Amt des Vorstandschefs verkündete er im Herbst 2011 eine gewagte Prognose: Bis zum Jahr 2020 sollte der Umsatz von damals 73 Milliarden Euro auf 115 Milliarden Euro steigen. Tatsächlich stagnierten die Erlöse unter Bock lange und fielen dann – auch, weil sich die BASF von etlichen Gasgeschäften trennte – auf zuletzt rund 57 Milliarden Euro. Auch der Ebitda-Gewinn (vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen) sollte sich nach Bocks Vision verdoppeln. Stattdessen ist der Gewinn seither gefallen.
Bock hat die BASF kaum vorangebracht und zu zögerlich agiert, sagen seine Kritiker. So ließ er 2014 die Chance verstreichen, das Unternehmen Dea, die Öl- und Gassparte der RWE, zu übernehmen. Weil Bock zu wenig bot, ging Dea an den russischen Investor Letter One. Vor wenigen Wochen kündigte Bock dann an, Dea von Letter One übernehmen zu wollen. Mittelfristig sollen die BASF-Tochter Wintershall und Dea dann an als eigenes Unternehmen an die Börse gebracht werden. Einen solchen Schritt empfehlen Finanzanalysten schon seit Jahren. Bock vollzieht nun ihre Idee. Doch eine größere Vision fehlt, wie die BASF nun in fünf, zehn oder gar zwanzig Jahren aussehen könnte.
Martin Brudermüller hätte wohl kaum auf Bock warten können
Martin Brudermüller könnte diese Strategie nun liefern. Der gelernte Chemiker gilt als guter Rhetoriker und noch besserer Motivator. „Es tut der BASF jetzt gut, wenn ein empathischer, risikofreudiger Chemiker ans Ruder kommt“, sagt ein Insider aus der Branche. Und Brudermüller hat in Hong Kong lange das Asien-Geschäft des Konzerns geleitet, er kennt die wichtigen Kunden und neuen Konkurrenten dort besser als jeder andere.
Schon als der Aufsichtsrat sich 2011 für einen neuen Vorstandsvorsitzender entscheiden musste, galt Brudermüller als Bocks größter Konkurrent. Brudermüller war Favorit von Jürgen Hambrecht, Bocks Vorgänger als Vorstandsvorsitzender. Doch der damalige Aufsichtsratschef Eggert Voscherau unterstützte Bock.
Heute ist Jürgen Hambrecht Aufsichtsratschef. Und mit sechs Jahren Verzögerung kann er nun den Plan umsetzen, der damals scheiterte. „Das trägt für mich die Handschrift von Herrn Hambrecht“, sagt ein Konzern-Insider. Hambrecht hat BASF entscheidend geprägt, er hat das Chemieimperium überhaupt erst in seine heutigen Sparten aufgeteilt. Brudermüller ist der Manager, der ihm in seinem Stil am meisten gleicht. Der 56-jährige Brudermüller hätte wohl auch kaum bis zum Ende von Bocks Amtszeit warten können. Mit dann 59 Jahren wäre er zu alt gewesen, um BASF durch das nächste Jahrzehnt zu begleiten. Bislang war vor allem der einige Jahre jüngere Vorstand Michael Heinz, der unter anderem den Standort Ludwigshafen leitet, als Nachfolger von Bock gehandelt worden.
Und auch Hambrecht hat mit 71 Jahren bereits sämtliche Altersgrenzen überschritten. Seinen Posten soll er noch bis 2020 inne haben. Dass Bock deshalb schon heute seinen Posten räumt, ist nur folgerichtig. BASF besetzt den Aufsichtsrat traditionell aus den eigenen Reihen, der Chemiekonzern gilt als zu komplex für Außenseiter. Die hätten wohl auch kaum die nötige Autorität im eingeschworenen Ludwigshafener Club.
Bock ist deshalb die logische Wahl als nächster Aufsichtsratsvorsitzender. Das Gesetz verlangt eine zweijährige Wartezeit vor einem Wechsel eines Vorstands in den Aufsichtsrat des selben Unternehmens. BASF ist der erste Konzern, der daraus die nötigen Schlüsse zieht und schon heute seinen Vorstand entlässt, damit er morgen Aufsichtsrat werden kann.
Es ist wohl auch die bessere Rollenverteilung: Der nüchterne Finanzexperte kontrolliert künftig den angriffslustigen Chemiker.