Enttäuschende Prognose Netflix gerät nach Corona-Auftrieb unter Druck

Neue Doppelspitze: Netflix-Gründer Reed Hastings und der bisherige Inhalte-Chef Ted Sarandos. Quelle: REUTERS

Der Streamingdienst hat im ersten Halbjahr 26 Millionen neue Abonnenten gewonnen, viele davon in Europa. Auch wegen Corona. Doch die Prognose für das laufende Quartal enttäuscht.

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Doppelspitzen sind umstritten. Bei SAP oder Salesforce sind sie gerade erst gescheitert. Meist werden sie aufgesetzt, um einen wertvollen Mitarbeiter nicht zu verlieren.

Das wird wohl der Grund sein, warum es Netflix jetzt mit einer Doppelspitze versucht: Ted Sarandos, der Chef für Inhalte und einer der ersten Mitarbeiter, rückt noch enger an die Seite von Gründer Reed Hastings und wird Co-CEO. Der Aufstieg unterstreicht einmal mehr, dass an den Inhalten das Schicksal des Streaming-Anbieters hängt. Sind sie langweilig oder treffen nicht den Nerv, vermindert das die Zahl der Abonnenten und Neukunden. Was bei Netflix umso wichtiger ist, weil Anleger vor allem auf die Wachstumsraten des Medienkonzerns aus dem Silicon Valley schauen.

Die Personalie deutet an, dass ein Sturm aufzieht, durch den es von der Brücke aus zu navigieren gilt. Oder vielmehr eine Flaute. Sarandos, der wegen Milliardeninvestitionen in Filme und Serien, davon immer nur Eigenproduktionen, als einer der mächtigsten Männer Hollywoods gilt, ist nun noch einflussreicher geworden.

„Er kann so auch größere Deals durchziehen“, sagt Gründer Hastings. Im vergangenen Jahr gab Netflix für Inhalte 15,3 Milliarden Dollar aus. In diesem Jahr werden 17 Milliarden Dollar erwartet.
Momentan sehen die Wachstumsraten wegen einer aggressiven internationalen Expansion und dem erhöhten Medienkonsum während der Corona-Quarantäne gut aus. Netflix konnte im ersten Halbjahr 26 Millionen neue Abonnenten gewinnen, nur zwei Millionen weniger als im gesamten Vorjahr. Im zweiten Quartal waren es 7,5 Millionen Kunden, 25 Prozent mehr als erwartet. Entsprechend stieg der Umsatz im zweiten Quartal auf 6,1 Milliarden Dollar und das Betriebsergebnis auf 1,36 Milliarden Dollar. Der Profit fiel mit 720 Millionen Dollar jedoch schwächer aus, als von Analysten erwartet.

Doch Hastings und Sarandos ist bewusst, dass der Abo-Zuwachs ein Ausreißer ist – begünstigt durch die Ausgangsbeschränkungen durch Corona. Das Virus hat einiges vorweggenommen. Für das dritte Quartal prognostiziert Netflix deshalb nur noch 2,5 Millionen Neukunden – weniger als die Hälfte vom dritten Quartal des Vorjahres, wo es noch 6,8 Millionen waren. Das bedeutet, „dass wir im zweiten Halbjahr weniger Wachstum erwarten“, teilte Netflix seinen Investoren mit.

Die Corona-Quarantäne ist außerdem ein zweischneidiges Schwert. Zwar macht sie ein Netflix-Abo attraktiver. Gleichzeitig haben die Kunden jedoch mehr Zeit für „binge-watching“, was die Kosten für Infrastruktur und Lizenzen erhöht. Da das Publikum mehr schaut, müssen auch mehr Inhalte herbeigeschafft oder ausgetauscht werden.

Nach Börsenschluss fiel die Netflix-Aktie wegen der Wachstumswarnung in der Spitze um mehr als zehn Prozent. Damit ist sie zwar nun wieder unter die 500 Dollar Marke gefallen. Bei knapp 480 Dollar notiert sie aber noch immer weit über den rund 300 Dollar von Mitte März, als Corona in den USA erstmals ernster genommen wurde und Kalifornien – Heimatstaat von Netflix – die ersten Ausgangsbeschränkungen verhängte.

Mit rund 210 Milliarden Dollar Börsenwert zählt Netflix weiterhin zu den am höchsten bewerteten Silicon-Valley-Unternehmen. Ein Wertzuwachs, der vor allem in der vergangenen Dekade gelang. Im Juli 2010 war Netflix 7,5 Milliarden Dollar wert, hatte sein schwächelndes Geschäft mit dem Verleih von DVDs durch Online-Videos wieder befeuert und stand am Anfang einer internationalen Expansion. Der Umsatz verzehnfachte sich von 2,1 Milliarden Dollar im Jahr 2010 auf 20,1 Milliarden Dollar im Geschäftsjahr 2019. Das gelang nicht nur durch neue Kunden, sondern auch durch regelmäßige Preiserhöhungen.

Der Gewinn konnte sogar noch stärker zulegen, von 160 Millionen Dollar zum Anfang der Dekade auf 1,8 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr. Die entscheidende Frage ist, ob das Wachstum von Netflix bei den Abo-Zahlen langsam ausgereizt ist und auch Preiserhöhungen nicht mehr durchsetzbar sind. Im einstigen Kernmarkt Nordamerika wird das zunehmend schwieriger. Je höher die Abonnentenzahl wird, umso herausfordernder wird es, abgewanderte Kunden durch neue zu ersetzen, um Zuwachs vorzuweisen. Zudem nahmen viele etablierte Medienkonzerne wie Disney, Warner Media oder Viacom Netflix zum Beginn des vergangenen Jahrzehnts nicht allzu ernst, sahen den Dienst mehr als zusätzliche Abspielstation. Das hat sich nun geändert. Publikumshits wie die Serie „Friends“, lange ein Magnet von Netflix, sind nun exklusiv zu WarnerMedias HBO Max gewandert. Netflix muss stärker mit eigenen Inhalten wie „Stranger Things“ oder „Narcos“ kontern, was teuer ist. Besonders Disney macht Druck.

Liegt das goldene Jahrzehnt also bereits hinter Netflix? „Die Möglichkeiten für das neue Jahrzehnt sind unglaublich, vor allem im Ausland“, bekräftigte zumindest Hastings bei Bekanntgabe der Zahlen. „Ich werde in der Dekade weiter mitmachen, nur um das klarzustellen“, witzelte der Gründer. Er machte damit klar, dass sein neuer Co-CEO ihn nicht so schnell ablösen werde. Große Änderungen plant er nicht. „Wir haben ein gutes Modell, was wir weiter verbessern und skalieren werden.“ Eine Expansion in Videospiele wollte Hastings nicht bestätigen, aber auch nicht ausschließen. Allerdings gäbe es, so ergänzte Sarandos, noch jede Menge Möglichkeiten bei Serien und Filmen.



Momentan zählt Netflix knapp 193 Millionen Kunden weltweit. Im einstigen Kernmarkt Nordamerika sind es knapp 73 Millionen Abonnenten, vor einem Jahr waren es noch 66. Viel zu gewinnen gibt es hier nicht mehr, auch weil das Abo meist den ganzen Haushalt umfasst, es also wesentlich mehr Zuschauer gibt. Zudem gibt es mit Amazon und Hulu starke Konkurrenz und mit Disney Plus, Apple Plus und HBO Max weitere Wettbewerber, die ihre Präsenz ausbauen. Disney hat mit seinem im November gestarteten Streaming-Dienst, der seit März auch in Deutschland verfügbar ist, bereits mehr als 50 Millionen Nutzer gewonnen.

Ein Lichtblick bleibt das Ausland. Vor allem Europa, wo Netflix in den vergangenen zwölf Monaten seine Abonnenten von 44 Millionen auf nun 61,5 Millionen ausbauen konnte. Der am stärksten wachsende Markt ist Asien, wo im gleichen Zeitraum die Abos von 13 Millionen auf 22,5 Millionen stiegen. Mit dem internationalen Rückenwind erwarten Analysten, dass Netflix dieses Jahr die Marke von 200 Millionen Kunden nimmt. Ausgehend von der derzeitigen Börsenbewertung wäre dann jeder Kunde ungefähr 1000 Dollar wert. Das günstigste Jahresabo kostet in den USA 108 Dollar. Netflix ist dazu verdammt, weiter ein großes Rad zu drehen.

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