Jörg Jung Für viele Unternehmen ist SAP heute nicht mehr die Lösung – sondern das Problem

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Jörg Jung vom SAP-Konkurrenten Infor erklärt, warum Software-Großprojekte so oft scheitern und er selbst auch mal auf einen Deal verzichtet.

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Herr Jung, Ihr Rivale SAP kommt immer wieder in die Schlagzeilen, weil manche Software-Großprojekte spektakulär scheitern. Wie viel Schadenfreude verspüren Sie dabei?
Gescheiterte Projekte gab es bei uns früher auch, das will ich gar nicht verhehlen. Aber inzwischen haben wir eine grundsätzlich andere Philosophie, wie wir unsere Software entwickeln und beim Kunden einführen.

Welche denn?
Wir gehen komplett in die Cloud, und zwar in die echte Cloud. Wir bieten also Software-Anwendungen, die wir für unsere Kunden in von uns betriebenen Rechenzentren vorhalten und die komplett über das öffentliche Internet abrufbar sind.

Und wie verhindern Sie damit, dass IT-Projekte aus dem Ruder laufen?
Weil Software aus der Cloud nicht extra auf Rechnern im Unternehmen installiert werden muss, sondern einfach via Internet genutzt werden kann. Das verringert den Einführungsaufwand bereits spürbar. Zudem stehen den Kunden in der Cloud spätere Software-Updates automatisch zur Verfügung, und schließlich, weil man flexibel je nach Bedarf Nutzer zu- und wieder abschalten kann.

Das klingt fast zu einfach. Wie schaffen Sie es, dass Ihre Programme auch in unterschiedlichen Industrien funktionieren?
Wie haben festgelegt: Wir müssen als Softwarehersteller auch die letzte Meile mit speziellen Industriefunktionen selber bauen – und dürfen das nicht an Partner verlagern, die dafür Module bauen. Das bedeutet auch: Wir bedienen nicht alle Industrien, die etwa SAP heute bedient, sondern wir fokussieren uns bewusst auf rund zwölf Branchen. Für die bieten wir vordefinierte Geschäftsprozesse und vorkonfigurierte Vorlagen an, um die Einführung der Software weiter zu beschleunigen. Unternehmen müssen dann praktisch nur noch ihre Daten dort hinein laden.

Aber solche Vorlagen für bestimmte Industrien bietet SAP bei seinem Flaggschiffprodukt S4/Hana doch auch an.
Der Unterschied liegt darin, wer sich um diese speziellen Funktionen für bestimmte Industrien kümmert. Wir machen das selbst. SAP baut hingegen ein Paket von Software-Tools, durchaus auch für Branchen, für das die SAP-Partner dann weitere eigene Funktionen entwickeln – das bedeutet: Der individuelle Zuschnitt des Projekts nach den Vorstellungen des Unternehmens liegt dann in den Händen der Partner. Das ist ja auch der Grund, warum die Projekte dann so lange dauern.

Zur Person

Viele Kunden sagen aber auch: Wir haben besondere Bedürfnisse und wollen nicht den Standard nutzen, sondern unsere eigenen Prozesse in der Software abbilden. Damit sind auch Unternehmen, die sich nicht mit dem Standard aus der Cloud zufriedengeben, Teil des Problems.
Das ist richtig. Die Unternehmen fanden es lange Zeit toll, ihre eigenen Anpassungen in der Software vornehmen zu können. Das Problem dabei: Spätere Upgrades auf eine neue Software-Version sind dann so aufwändig, dass es kaum jemand richtig überblickt. Das haben inzwischen viele Unternehmen erkannt. Diejenigen, mit denen wir über neue Projekte reden, wollen unser Knowhow in ihrer Industrie zwar überprüfen. Wenn die für sie passt, bekennen die sich zu unserem Standard.

Die Megaflops unter den SAP-Großprojekten
OttoDer Hamburger Otto-Konzern kippte im Jahr 2012 eine SAP-Einführung mit dem Namen „Passion for Performance“. Das im Jahr 2009 gestartete Vorhaben galt als das größte IT-Projekt in der Geschichte des Versandhändlers, der seine diversen IT-Systeme mithilfe von SAP vereinheitlichen wollte. Rund 100 Beschäftigte arbeiteten an dem Projekt, das dann doch floppte. Der finanzielle Schaden lag laut Unternehmensangaben im zweistelligen Millionenbereich. Ottos knappe Begründung für das Scheitern: „sehr komplex“. Quelle: dpa
Deutsche BankMit einem SAP-Projekt, das intern den Code-Namen „Magellan“ hatte, wollte die Deutsche Bank die IT der von ihr übernommenen Postbank integrieren. Im Jahr 2015 stoppte das Frankfurter Bankhaus die Sache: Hunderte Experten hatten über Jahre an dem Projekt gewerkelt, die angestrebten Ziele jedoch nicht ansatzweise erreicht. Bis zum Schiffbruch hat die Bank mit Magellan eine dreistellige Millionensumme versenkt, wie seinerzeit aus dem Unternehmensumfeld verlautete. Quelle: dpa
LidlIm Jahr 2011 hatte Lidl unter dem Codenamen „Elwis“ eine konzernweite SAP-Offensive für ein weltweit einheitliches Warenwirtschaftssystem gestartet. Fast sieben Jahre lang bastelten der Discounter und die Unternehmensberatung KPS an der Einführung. Nach Investitionen von einer halben Milliarde Euro zog der Discounter schließlich im Juli 2018 die Reißleine und beerdigte „Elwis“. Die ursprünglichen Projektziele seien „nicht mit vertretbarem Aufwand“ erreichbar, so Lidl-Chef Jesper Hoyer im Juli 2018 in einer internen Mitteilung. Quelle: dpa
EdekaDer größte deutsche Lebensmittelhändler Edeka entschied im Jahr 2007, seine komplexen Einkaufs- und Warenwirtschaftsabläufe im Projekt „Lunar“ mit SAP zu vereinheitlichen. Dafür veranschlagte das Unternehmen ursprünglich ein Budget von 200 Millionen Euro. Als Lunar im Jahr 2012 abgeschlossen war, hatte Edeka insgesamt 350 Millionen Euro investiert. Laut Aussage des damaligen Edeka-IT-Vorstands Reinhard Schütte war dieses Projekt „eine der weltweit kompliziertesten SAP-Installationen der vergangenen Jahre“. Intern rumort es weiterhin, weil verschiedene Edeka-Untergesellschaften statt Lunar ein SAP-Alternativsystem namens „Sonar“ favorisieren, das in einer anderen Untergesellschaft der Händlergenossenschaft entwickelt wurde. Wer sich in dem IT-Streit durchsetzt, ist bisher offen. Quelle: dpa
Deutsche PostIm Jahr 2015 musste die Deutsche Post wegen einer gefloppten SAP-Einführung ihre Gewinnziele kappen. In dem Projekt namens „New Forwarding Environment“ wollte der Konzern aus Bonn eigentlich von 2011 an sein 30 Jahre altes IT-System „Logis“ mit einer komplett neuen Software auf SAP-Basis ablösen. Ende 2015 räumte die Post dann offiziell ein, einen dreistelligen Millionenbetrag in den Sand gesetzt zu haben: „Vor dem Hintergrund der geringeren Wahrscheinlichkeit, dass DHL (...) aus dem New Forwarding Environment (NFE) System in der gegenwärtigen Form positive Effekte erzielen kann, hat der Konzern in den ersten neun Monaten 2015 Einmaleffekte in Höhe von 345 Millionen Euro verbucht“, gab der Konzern aus Bonn per per Ad-hoc-Mitteilung bekannt. Die Summe setzte sich zusammen aus 308 Millionen Euro für Abschreibungen auf das Projekt – und weiteren 37 Millionen Euro Rückstellungen für dessen Rückabwicklung. Quelle: imago images
DocMorrisIm Jahr 2012 sorgte eine holprige SAP-Einführung für ein enormes Chaos bei der Internetapotheke DocMorris. Anfangs hakte insbesondere die Weitergabe von Aufträgen, sodass Tausende Rezepte unbearbeitet blieben. Über zwei Jahre kam es zu Lieferengpässen. Viele enttäuschte Kunden machten in Internetforen ihrem Unmut Luft. „Unser Nahtoderlebnis“, nannte Vorstandschef Olaf Heinrich das Projekt, das er selber rettete. Quelle: obs

Sie rühmen sich damit, dass Sie die Cloud auf die Bedürfnisse Ihrer Kundschaft besonders gut anpassen. Wieso ist das so wichtig?
Weil ein Unternehmen dann keine Entscheidungen für die nächsten zehn oder 15 Jahre treffen muss – einen Zeitraum, den man seriös ohnehin nicht überblicken kann. Wir können das System jederzeit nach Bedarf des Kunden hoch- und herunterfahren können. Es wächst also mit dem Unternehmen mit.

„Wer SAP Finance beherrscht, ist praktisch für jedes Unternehmen in Deutschland interessant“

Und das ist bei SAP nicht so?
Nehmen Sie beispielsweise eine intern betriebene private Cloud: Dort wird die Software auf einem speziellen Server im Unternehmen installiert. Dadurch ist sie nicht frei erweiterbar – sprich: Wenn der Kunde irgendwann aus diesem Anzug herauswächst, benötigt er einen neuen Anzug, weil er den alten nicht ohne weiteres erweitern kann. In einer echten Cloud hingegen funktioniert das sehr wohl, da bucht der Kunde einfach mehr Kapazität dazu. Außerdem muss ein Unternehmen in der privaten Cloud Aktualisierungen eigens einspielen. Kommt eine neue Software-Version, steht der nächste neue Anzug an – also wieder ein neues Großprojekt nur für das Upgrade. Das ist in der echten Cloud alles Schnee von gestern.

Aber wollen die Unternehmen eigentlich mit ihrer kompletten Unternehmenssoftware in die Cloud?
Das ist eine berechtigte Frage. Es gibt in der Tat immer wieder Unternehmen, die sagen: Ich möchte nicht in die Cloud. Als ich vor zwei Jahren bei Infor anfing, steckte das Thema Cloud in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Da gab es gerade erst die ersten Cloud-Deals. Das Cloud-Geschäft bewegte sich damals bei Infor im einstelligen Prozentbereich. Innerhalb von zwei Jahren ist die Nachfrage auf ziemlich genau die Hälfte angewachsen.

Warum?
Zum einen zeigen wir einem Kunden heute, wenn er zu uns kommt, was er von uns bekommt – und dass dies ausschließlich aus der Cloud kommt. Von zehn Unternehmen, die sich an uns wenden, wollen acht zuerst keine Cloud – am Ende haben wir neun überzeugt, mit uns gemeinsam in die Cloud zu gehen. Eins von zehn Unternehmen verweigert sich diesem Weg weiterhin – und dann ziehen wir uns zurück. Wir betrachten Projekte mit im Unternehmen installierter Software als Reise zurück in die Vergangenheit – dafür stehen wir nicht mehr zur Verfügung.

Sie verzichten dann wirklich auf Geschäft?
Ja. Ich habe kürzlich ein Großprojekt bei einer der führenden deutschen Modeketten im Discountbereich genau aus diesem Grund abgesagt.

Wenn Sie sich das leisten können…
Ja, das können wir uns leisten. Ich bin mir aber sicher, diese Unternehmen sprechen uns spätestens in einem Jahr wieder an. Wir stehen aktuell vor dem Abschluss eines Vertrags mit einem der führenden Handelsunternehmen in Deutschland. Das hatte das Projekt mit der Vorgabe ausgeschrieben, dass die Software im Unternehmen installiert wird. Wir haben uns darauf als einziger mit unserer Cloud-Lösung beworben – und den Zuschlag bekommen. Denn: Alle anderen sind in eine Falle getappt.

Wie das?
Der Kunde wollte durch die Art der Ausschreibung prüfen, ob ein Software-Anbieter auch als strategischer Partner arbeitet, der für die Zukunft berät – und auch neue Technologien wie die Cloud anbietet, statt nur seine althergebrachte Software wie in den vergangenen 40 Jahren verhökert. Er hatte in der Ausschreibung ganz bewusst das Thema Cloud ausgelassen.

Es ist noch nie ein CIO rausgeschmissen worden, weil er SAP gekauft hat. Wie überzeugen Sie Ihre Kunden, stattdessen auf Infor zu setzen?
Naja, ob das wirklich so ist gilt es zu überprüfen. In den Neunziger Jahren war das sicherlich so. Es stimmt aber schon, dass wenn wir in so einen Auswahlprozess einsteigen, dann gibt es immer zwei Abteilungen, die wir besonders überzeugen müssen: Die Finanz- und die IT-Abteilung. Viele sehen es ja auch als Karriereschritt: Wer SAP Finance beherrscht, ist praktisch für jedes Unternehmen in Deutschland interessant. Andererseits stehen viele IT- und Finanzchefs heute vor den Scherben ihrer Entscheidungen von vor zehn Jahren – und zugleich vor der Herausforderung der digitalen Transformation. Die Geschäftsmodelle wandeln sich also dramatisch. Jetzt schauen sie auf ihre IT und fragen sich: Wie soll ich das mit diesem Software-Moloch schaffen?

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