Onlinehandel Wie Start-ups die Retouren-Flut bekämpfen

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Schuhe im Computertomograph

Zu umständlich, zu langsam, zu ungenau: Die Gründer von Fision und Presize sind sich einig darin, warum vorherige Ansätze krachend gescheitert sind. Die Ausgangssituation heute sei eine andere als noch vor zehn Jahren. Zum einen liefern die Selfie-Kameras von Smartphones heute deutlich bessere Aufnahmen als die meisten Webcams. Und dank Künstlicher Intelligenz werden Algorithmen immer besser darin, Objekte in Videos oder Fotos zu erkennen – die Fortschritte beim autonomen Fahren zeugen davon genauso wie die Möglichkeit, beispielsweise Pflanzen per Bild über die Google-App zu bestimmen. 

„Unser erstes Credo ist die Genauigkeit, an zweiter Stelle steht die Geschwindigkeit“, sagt Fision-Chef Ferdinand Metzler. „Beides ist entscheidend für die Akzeptanz.“ Wie auch Presize beansprucht das Züricher Start-up für sich, die genauesten Ergebnisse zu liefern. Statt Video-Selfies nutzt das Unternehmen zwei Fotos. Aus Nutzersicht unterscheidet sich das Verfahren kaum.  

Doch es ist für eine funktionierende Größenberatung nicht damit getan, die Körpermaße zu bestimmen. Auch die Daten der Kleidungsstücke müssen her. Einigen Aufwand betreibt dafür das Start-up Onefid, das eigenen Angaben zufolge mehrere Millionen Produktdaten besitzt. Dazu wurden sogar Schuhe durch ein Computertomograph gejagt. Kontinuierlich versucht eine KI-basierte Software von bestehenden Größendaten der jeweiligen Marke Rückschlüsse auf die Passform neuer Modelle zu schließen.

Nirgendwo in Deutschland gibt es so viele Onlineshopper wie im Landkreis Südwestpfalz. Sie bestellen nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil sie aufs Internet angewiesen sind – und der Bürgermeister die Lieferung bringt.
von Jacqueline Goebel

Inzwischen ist das oft nicht mehr nötig, sagt Onefid-Chef Timo Marks. „Wir arbeiten mittlerweile mit vielen Herstellern zusammen, die uns direkt ihre digitalen Produktionsdaten übermitteln.“ Die Datenbank nutzt das Start-up unter anderem für eine eigene App, die Nutzern passende Schuhe aus Online-Shops vorschlägt. Zuvor machen sie mit dem Smartphone ein Foto ihrer Füße auf einem Blatt Papier, das den Algorithmen als Referenz bei der Berechnung dient. Ein ähnliches Verfahren nutzt Nike bereits in den USA. 

Vertreten ist Onefid außerdem mit Scan-Geräten im stationären Handel, darunter in Intersport-Geschäften, bei Sportscheck und Karstadt Sport. Die Vermessung ist als Unterstützung für die Verkäufer gedacht: Das System schlägt beispielsweise Joggingschuhe vor, die für die jeweilige Fußform ideal sind. Im E-Commerce zielt das Start-up vor allem auf kleinere Marken und Hersteller, die ihren Kunden eine digitale Größenberatung anbieten wollen. 

Presize und Fision werben ihrerseits bei Modemarken mit eigenen Onlineshops um Kooperationen. Denn anders als reine Händler können diese Schnittmuster oder sogar 3D-Modelle der Kleidungsstücke zur Verfügung stellen. Sind die Daten nicht vorhanden, werden zumindest die Größentabellen der Marken berücksichtigt. 

„Die Textilindustrie ist nicht unbedingt die schnellste bei der Digitalisierung“, sagt Fision-Chef Metzler. „Die Coronakrise, in der online zeitweise der einzige Verkaufskanal war, hat viele Unternehmen wachgerüttelt.“ Knapp 40 Neukunden habe Fision seit dem Ausbruch der Pandemie gewonnen. Bis zum Frühjahr des kommenden Jahres will der Gründer eine Finanzierungsrunde in zweistelliger Millionenhöhe auf die Beine stellen. 

Von einem wachsenden Interesse berichtet auch Onefid-Chef Marks, der mit einem weiteren Argument um Kunden wirbt: „Durch eine Zusammenarbeit mit uns können Schuh-Hersteller neue Erkenntnisse zur Passung ihrer Produkte gewinnen.“ Aktuell sei es oft so, dass Designer den Schnitt vorgeben – dieser dann aber gar nicht zu dem Gros der Kunden passe. „Künftig werden eine Vielzahl von Kundendaten, darunter auch die Kaufhistorie und Tragegewohnheiten, schon in den Designprozess einfließen“, sagt der Gründer. 



Virtuelle Anprobe am 3D-Avatar

Bisher wenig beeindruckt zeigen sich große Händler wie Aboutyou, Amazon oder Zalando. In der Branche wird erwartet, dass diese eigene Lösungen entwickeln, statt mit den Start-ups zu kooperieren. Besonders eilig haben es die Branchenriesen indes nicht.  Retouren seien Teil des Geschäftsmodells heißt es etwa bei Zalando. Man wolle die Umkleide zu den Kunden nach Hause bringen. Hinzu kommt: Die großen Retailplattformen verstehen sich gut auf Datenanalysen. Größenempfehlungen generieren sie etwa aus früheren Rücksendungen, bei denen der Kunde angegeben hat, dass ihm das Kleidungsstück zu groß oder zu klein war. 

Geht die Strategie der Start-ups auf, werden die großen Marktplätze sie auf lange Sicht nicht ignorieren können. Sowohl Fision als auch Presize und Onefid positionieren sich als Treuhänder, die die Körperdaten der Nutzer sicher aufbewahren – und diese Shop-übergreifend nutzbar machen. Mit jedem Scan wächst so die potenzielle Basis an Endkunden, die die Start-ups bei Verhandlungen mit den Händlern anführen können. Das Argument: Auch wenn die digitale Vermessung vergleichsweise schnell geht, wird kaum jemand bereit sein, das Prozedere bei jedem Händler aufs Neue zu durchlaufen. 


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Mit einem weiteren Feature wirbt Fision: Das Start-up erstellt auch 3D-Avatare der Nutzer. Shop-Betreiber können das nutzen, um virtuelle Anproben anzubieten – vorausgesetzt sie haben ihrerseits dreidimensionale Produktdaten. Kunden können ihrem Computerabbild dann zum Beispiel eine Jacke anziehen und gucken, wie diese zur ausgewählten Hose passt. Ein weiterer Vorteil: Man sieht, wie eng die Kleidungsstücke am Körper anliegen – eine Geschmacksfrage, bei der auch die digitale Vermessung bislang kaum weiterhilft.

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