Was sich nicht erzwingen lässt und wofür es in der Regel das berüchtigte Quäntchen Zusatzglück braucht, ist der ultimative Megaerfolg. Doch gerade aus diesen Ausnahmeerfolgen leiten viele Motivationsgurus ihre „Alles ist möglich“-Botschaften ab und ignorieren damit, dass auf jeden Richard Branson zahlreiche durchschnittlich erfolgreiche Musikproduzenten und etliche völlig erfolglose kommen.
„Man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“, heißt es schon in der Dreigroschenoper. Noch ein letzter Aspekt: Es genügt nicht, Chancen zu haben, man muss sie auch sehen. Manche Menschen verfügen einfachüber einen besseren Chancenradar als andere, sie wittern Geschäftsideen, die andere übersehen, sie erkennen wertvolle Kontaktmöglichkeiten, wo andere den ruhigen Feierabend bedroht sehen, sie fragen gewohnheitsmäßig „Ja, warum eigentlich nicht?!“, statt sich ebenso routiniert in die „Ja, aber“-Stagnation zu flüchten.
Das kann man sich übrigens auch dann noch angewöhnen, wenn man durch eine langjährige „Ja, aber“-Schule in Ausbildung und Berufsleben gegangen ist. Menschen mit Chancenradar sind ein wenig wacher, neugieriger und risikofreudiger als der Durchschnitt.
Alles hat seine Zeit – Work-Life-Tides
Ich halte nicht viel von Work-Life-Balance. Die Metapher des Balancierens evoziert eine heikle Gradwanderung mit der dauernden Gefahr, abzustürzen, und das entspricht ja durchaus der Lebenswirklichkeit vieler Menschen. Tagtäglich versuchen sie, eine Reihe von Ansprüchen unter einen Hut zu bringen. Das klappt, solange nichts schiefgeht. Da im Leben jedoch regelmäßig etwas schiefgeht, ist es aus mit der Balance, sobald ein Projekt unerwartet mehr Zeit braucht, ein Kind krank wird oder der Chef wechselt. Dann stürzt die wackelige Alltagsorganisation zusammen wie ein Kartenhaus. Vor einiger Zeit stolperte ich über einen Artikel zum Thema „Die erschöpfte Familie“.
Alle Mitglieder, ob Vater, Mutter, Teenagertochter oder kleiner Bruder, alle waren unzufrieden, alle klagten über Stress. Schließlich wolle man neben Arbeit und Schule beziehungsweise Hausaufgaben ja auch regelmäßig zum Handball beziehungsweise zum Yoga, und auch der Kirchenchor sei wichtig, und übers Smartphone bis spätabends mitzuchatten sei quasi Teenagerpflicht, und jeden Tag müsse gesund gekocht werden, und der Musikunterricht der Kinder und das Ballett und die Fahrdienste und die Verpflichtungen im Kindergarten. Ein wenig klang das nach einem Vierjährigen, der sich beim Kindergeburtstag durch das gesamte Süßigkeitenangebot gefuttert hat und sich hinterher bitter beklagt, dass ihm übel wird.
Mein Eindruck ist: Wir leben in einer Zeit, in der immer mehr Menschen alles wollen, und zwar sofort.
An die Stelle des „Alles auf einmal“ der Work-Life-Balance möchte ich ein Gezeitenmodell des stetigen Wandels setzen. Work-Life-Tides bedeutet: Unterschiedliche Lebensphasen verlangen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, will man nicht unter dem Druck der eigenen Ansprüche einknicken. Das setzt eine reife Persönlichkeit, eine bewusste Lebensplanung und die Zuversicht voraus, dass die Zeit für andere Vorhaben schon kommen wird. Ein prominentes Beispiel für ein derartiges Lebenskonzept ist Tennisstar Steffi Graf, die als Leistungssportlerin beeindruckende Erfolge feierte, sich dann auf die Familie konzentrierte und nach einigen Jahren als Geschäftsfrau aktiv wurde.
Für Sie kann das bedeuten, sich klar darüber zu werden, was in der jeweiligen Lebensphase im Vordergrund stehen soll und in welches Projekt Sie Ihre meiste Kraft investieren wollen. Wenn Sie beruflich nach den Sternen greifen, ein Unternehmen gründen oder 10.000 Stunden in Ihr Talent investieren wollen, ist das vermutlich nicht die beste Zeit, um gleichzeitig noch ein Haus zu bauen und sich aktiv in die Kindererziehung einzubringen.