In sein drei Quadratmeter großes Kabuff hat Chen Tingyao, ein Veteran der Volksbefreiungsarmee, einen Bürostuhl, einen kleinen Schreibtisch, seine Teekanne, Computer und Telefon hineingezwängt. Die Wohnanlage, deren Einfahrt der 70-Jährige bewacht, besteht aus mehreren denkmalgeschützten Gebäuden im ehemals französisch kontrollierten Teil von Shanghai – prächtige, etwas heruntergekommene Häuser im Art-déco-Stil, in denen heute reiche Chinesen und Ausländer wohnen.
Nach Shanghai kam Chen vor sechs Jahren. „Ich muss Geld verdienen“, sagt der dünne, gut gelaunte Mann. 16 Jahre war er alt, als er sich zur Armee gemeldet hat. Später arbeitete er in einer Ziegelfabrik. Auf dem Land erhält er eine Rente in Höhe von umgerechnet acht Euro. Hier bekommt er umgerechnet 200 Euro als Parkwächter.
Eine junge Frau fährt mit einem neuen BMW in die Einfahrt. Chen weist der Dame einen Parkplatz zu und setzt sich wieder. Neid auf den Reichtum der jungen Städter kennt er nicht: „Bei mir bekommt jeder einen Parkplatz – egal, welches Auto er fährt!“
Wenn es um sein Heimatland geht, blitzen die alten Soldatenaugen. „China ist auf dem Weg zur Weltmacht, das macht mich stolz“, sagt Chen und hebt den Zeigefinger. „Allerdings neiden viele Nachbarländer uns diesen Erfolg!“
Welt profitierte von Chinas Wachstum
Bisher verlief Chinas Aufstieg friedlich. Vom Wachstum des Landes profitierte die ganze Welt. Die Amerikaner kauften billige Produkte und bezahlten sie mit amerikanischen Staatsanleihen. Die wechselseitige Abhängigkeit war auch friedenssichernd. Deutsche und Japaner verkauften Millionen von Autos und Maschinen nach China, und als 2008 die Finanzkrise die westliche Welt erschütterte, trug das gigantische chinesische Konjunkturpaket zur globalen Stabilisierung bei.
Aber das war gestern. Unter Xi Jinping dehnt China seine Einflusssphäre aus. Peking beansprucht mit völkerrechtlich zweifelhaften Argumenten Inseln im Südchinesischen Meer und rüstet auf. Die Militärausgaben steigen Jahr für Jahr zwischen 10 und 20 Prozent.
Der alte Soldat Chen freut sich über so etwas. Für ihn sind endlich die Jahre der Demütigung Chinas vorbei. Jeden Tag liest er die „Renmin Ribao“, die Volkszeitung. Im scharfen nationalistischen Ton berichtet das Parteiorgan über die Konflikte mit den Nachbarn: Vietnam, die Philippinen, und immer wieder Japan.
Der siegreiche Kampf gegen die japanischen Besatzer im Zweiten Weltkrieg gehört zur Heldengeschichte der chinesischen KP. Jedes chinesische Schulkind hört von den Gräueltaten der japanischen Invasoren vor 1945. Da wird der Streit mit Tokio um die bis auf ein paar Ziegen unbewohnten Diaoyu-Inseln zum Anlass für die chinesische Führung, ihre wachsende Stärke nach außen und innen zu demonstrieren, mit der Entsendung von Kriegsschiffen und Kampfflugzeugen, aber auch mit Drohungen gegen japanische Unternehmen in China.
Der neue Nationalismus füllt ein ideologisches Vakuum. Die diktatorisch herrschende Partei ist seit Langem nur noch dem Namen nach kommunistisch – und ihr Ziel, China wohlhabend und mächtig zu machen, ist noch lange nicht erreicht.
Xis ungewöhnliche Popularität
Bleibt der Kampf gegen die Korruption als Instrument der Pekinger Führung im Kampf um die Sympathie ihrer Untertanen. Präsident Xi und und sein Premierminister Li Keqiang haben da tatsächlich Erfolge vorzuweisen, und das erklärt auch zu einem guten Teil Xis ungewöhnliche Popularität. Zur Korruptionsbekämpfung gehören öffentlichkeitswirksame Kampagnen: Allwöchentlich werden prominente Sünder im Staatsfernsehen vorgeführt, und viele Millionen Chinesen erfahren dadurch, wie ernst Xi und Li es mit dem Kampf gegen die allgegenwärtige Plage meinen.
Aber ist das wirklich so? Die Entlarvung korrupter Funktionäre packt das Problem nicht an seiner Wurzel. Entscheidungsträger im Staatsapparat Chinas sind nach wie vor abhängig von der Gnade der Staatsführung – Menschen oder auch Unternehmen, die von staatlichen Entscheidungen abhängig sind, begegnen einer schwer durchschaubaren Willkür.
Das fördert die Korruption, auch wenn jetzt immer wieder einzelne bestochene Funktionsträger ihre Posten verlieren und zu hohen Strafen verurteilt werden. Abhilfe könnte vielleicht eine von Parteiführung und Regierung unabhängige Untersuchungskommission schaffen, aber so etwas gibt es nicht.
Helfen würde schon eine Veröffentlichungspflicht für Nebeneinnahmen von Politikern. Daran ist nicht zu denken. So blieb es der amerikanischen Nachrichtenagentur Bloomberg vorbehalten, vor zwei Jahren die sehr komfortablen Vermögensverhältnisse der Familie Xi zu enthüllen.
Bloomberg bekam darauf Probleme in China. Aus der Pekinger Volkszeitung erfuhren der brave Soldat Chen und die Abermillionen weiteren Leser davon nichts.