Tauchsieder
Quelle: imago images

Einen Lindenblütentee für Gutsherr Wladimir!

Russlands Staatschef Putin behandelt Land und Leute wie Besitz und Beute. Er verspielt die Zukunft des Landes und nimmt Europa zur Geisel seiner russifizierten Zarenreichsfantasien und postsowjetischen Traumabewältigung.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Die alte Kinderfrau Marina ist in Tschechows „Onkel Wanja“ so etwas wie die gute Fee des Hauses, immer mit einem Lindenblütentee zur Stelle, wenn sich die Gemüter der Herrschaften mal wieder erhitzen. Und natürlich weiß sie Rat, als Gutsherr Wladimirowitsch, der sein Leben lang auf Kosten anderer „leeres Stroh“ gedroschen hat, einen lichten Moment hat und um Trost barmt: „Nehmen wir mal an, ich bin widerlich, ein Egoist, ein Despot… Habe ich nicht das Recht auf… ein wenig Verständnis?“ Aber natürlich, sagt Marina da, jeder wolle schließlich mal bedauert werden: „Ich mache dir einen Lindenblütentee und wärme deine Beinchen.“

Eine wie Marina fehlt im Kreml. Eine, die dem echten Wladimirowitsch, die dem Gutsherren aller russischen Gutsherren, die Russlands Staatschef Wladimir Wladimirowitsch Putin jetzt eine Tasse Lindenblütentee zubereitet und die Beinchen wärmt, ihm gut zuspricht und von all seinem Dünkel befreit: „Finita la commedia“. Die Farce bald endlich vorbei? Putin erweckt nicht den Eindruck, er wolle der Welt alsbald gestatten, sich wieder mit einer besseren Zukunft zu befassen. Er fesselt sein Land an die Vergangenheit, um es im Abglanz historischer Größe scheinbar erstrahlen zu lassen und lässt die Welt nach seiner Pfeife tanzen, um seinen Landsleuten die Potemkinschen Dörfer einer prosperierenden Heimat und zukunftsfesten Weltmacht präsentieren zu können.

„Finita la Commedia“ – bei Tschechow wünscht sich das nicht von ungefähr die zweite zentrale Randfigur des Stücks, der idealistische, tateifrige, aber zunehmend illusionslose (und trunkene) Arzt Astrow, der sich „den ganzen Sommer über nur mit der Gicht“ des Gutsherren beschäftigen muss. Und der im viel zu frühen Herbst (seines Lebens) daher alle Träume von einem besseren Leben aufgeben muss: „Was für ein neues Leben denn! Unsere Lage… ist hoffnungslos… Ein Bild allmählicher Verödung… Vernichtung aus Trägheit… Fast alles ist zerstört, etwas Neues aber nicht geschaffen.“

Darf die Pipeline Nord Stream 2 zu Ende gebaut werden? Was für eine Frage. Die Antwort fällt eindeutig aus. Aus politischen und moralischen Gründen.
von Dieter Schnaas

Ja, man bekommt das Kernproblem von Putins Russland tatsächlich ausgezeichnet mit „Onkel Wanja“ zu fassen: Der Wladimirowitsch des Stückes lässt „seit fünfundzwanzig Jahren… die letzten Tropfen aus (seinem) Gut“ herauspressen und ist peinlich darauf bedacht, die „mehr oder minder ständige Einkunftsquelle“ nicht versiegen zu lassen. Aber er bewirtschaftet sein Land nicht produktiv, seit die alte, stehende Zeit (der Feudalwirtschaft) untergegangen ist: „Hätte man an Stelle (der) abgeholzten Wälder eine Chaussee angelegt oder eine Eisenbahnlinie“, klagt Astrow, „hätte man hier Fabriken und Schulen gebaut, wäre das Volk gesünder, wohlhabender und klüger. Aber nichts dergleichen“ geschah.

Stattdessen presst der echte Wladimirowitsch im Kreml seit zwanzig Jahren die letzten Tropfen Gas und Öl aus der russischen Erde, um sich mit den Erträgen von seiner postsowjetischen Belastungsstörung zu kurieren und seinen russifizierten Zarenreichsfantasien nachjagen zu können. Und auch Putin bewirtschaftet sein Land nicht produktiv, im Gegenteil: Er zehrt dessen Substanz auf, macht es sich zur Beute. Sieben der zehn größten Unternehmen Russlands verdienen ihr Geld mit der Erschließung und Ausbeutung von Öl und Gas. Der Anteil des fossilen Energiesektors am Bruttoinlandsprodukt liegt bei mehr als zwanzig Prozent; der Anteil des fossilen Energiesektors an den Exporten des Landes bei mehr als 60 Prozent. Kein einziges der Top-25-Unternehmen in Russland entwickelt avancierte Technologie oder Produkte, die am Weltmarkt nachgefragt wären. Statt dessen viel Banken, Börse, Bergbau, Stahl und Strom.

(Lesen Sie hier die große WiWo-Titelgeschichte, warum Putin Deutschland im Griff hat wie der Dealer den Junkie)

Kein Zweifel: Russland steckt ökonomisch tief im 20. Jahrhundert fest. Aber das allein ist es nicht. Denn Russlands Wirtschaft kreist vor allem auch um sich selbst, wenn es nicht gerade um den Verkauf von Bodenschätzen geht. Das weite, elf Zeitzonen umfassende Land mit seinen 145 Millionen Einwohnern exportiert nach Öl und Gas vor allem Edelsteine, Metalle, Eisen, Stahl, Kohle, Getreide, Holz und Düngemittel (zusammen rund 25 Prozent). Der Anteil von Maschinen an den Ausfuhren beträgt gerade mal 2,5 Prozent. Rechnet man allein Öl und Gas aus der Handelsbilanz heraus, fällt Russland als Exportnation schnell auf das Niveau von Zehn-Millionen-Einwohner-Staaten wie Tschechien, Österreich und Schweden zurück. Rechnet man auch die Bodenschätze heraus, befindet sich Russland auf Augenhöhe mit der Slowakei und Griechenland. Kurz: Es ist nicht nur Putins Stärke als Europas Gaslieferant Nummer eins, die uns besorgen sollte. Sondern auch Putins Schwäche als Reformer: Wer mit der Zukunft seines Landes nichts anzufangen weiß, sucht sein Heil in der Glorifizierung der Vergangenheit.



Für den Moment besonders problematisch ist dabei Russlands politische Rolle rückwärts. Putin hat den USA und der Nato zwei Vertragsentwürfe präsentiert, die auf eine Reißbrett-Revision der europäischen Geschichte seit 1989/90 hinauslaufen. Die Nato darf keine neuen Mitglieder mehr aufnehmen, weder Finnland noch Schweden und Österreich, die nicht mal eine Grenze mit Russland teilen? Putins Gesprächsangebot, das zeigen die beiden Adressaten, ist in Wirklichkeit ein Ultimatum: Willigen die USA nicht ein, Europa (wieder) in Einflusssphären zweier Großmächte aufzuteilen, müsse Russland das als Akt der Aggression verstehen - und etwa in der Ukraine (weitere) Fakten schaffen.

Klarer als Putins Russland kann man seine Verachtung für die „Charta von Paris“ nicht ausdrücken. Die Unterzeichner des Vertrags, auch Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion, haben sich 1990 verpflichtet, aller Androhung und Anwendung von Gewalt gegen „die territoriale Integrität“ und „politische Unabhängigkeit eines Staates“ zu entsagen - und das „Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen“ anerkannt. Jetzt spricht Putin nicht nur der Ukraine und postsowjetischen Staaten wie Armenien und Georgien, sondern ex post auch EU-Ländern und Nato-Mitgliedern ihr Selbstbestimmungsrecht ab: Kein europäischer Staat soll mehr Truppen oder Ausrüstung in andere europäische Staaten verlegen können, die nicht zum Stichtag der Nato-Russland-Akte (1997) Mitglied des Verteidigungsbündnisses waren? Damit wären etwa die baltischen Staaten, aber auch Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien (Beitritt im März 2004) militärisch auf sich allein gestellt.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%