Türkei Erdoğan fährt sein Land gegen die Wand

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Erdoğan hält sich für unbesiegbar

Andere in Brüssel setzen hingegen auf scharfe Töne. Die EU-Kommission legte am Mittwoch ihren mehr als 100 Seiten langen Fortschrittsbericht vor, in dem sie unter anderem sehr deutlich die Verletzung von Grundrechten und die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit kritisierte. Am Montag werden sich die Außenminister der 28 EU-Staaten ausführlich mit der Situation in der Türkei befassen.

Tut sich ein Drittel der Mitgliedstaaten zusammen, könnten sie tatsächlich eine Aussetzung der Beitrittsgespräche mit der Türkei fordern. „Es geht nicht darum, eine Zugbrücke hochzuziehen“, sagt der liberale Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff. „Aber es wäre sinnvoller, die Beitrittsgespräche zu beenden und durch eine realpolitische Agenda zu ersetzen.“ Er schlägt einen neuen Grundlagenvertrag vor, in dem Europa und die Türkei ihr Verhältnis etwa zu Energie, Migration oder Sicherheitspolitik regeln, „statt an einem toten Prozess festzuhalten“.

Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen kommt für die EU-Mitgliedstaaten aber wohl erst infrage, wenn Erdoğan wieder die Todesstrafe einführen würde. Unter europäischen Diplomaten herrschen allerdings Zweifel, ob selbst ein Abbruch der Gespräche Erdoğan überhaupt zum Einlenken bewegen würde. „Vielleicht würden wir ihm damit in die Hände spielen“, heißt es in Brüssel. Stelle sich die EU gegen die Türkei, bringe Erdoğan das im Zweifel im Inland nur weitere Sympathien. Zumal die türkische Lust auf einen Beitritt laut Umfragen ohnehin nicht mehr groß ist.

Unbeirrt baut Präsident Erdogan seine Macht aus. Quelle: dpa

Nicht mehr erpressbar

Gleichzeitig herrscht in der EU-Hauptstadt auch die Überzeugung, dass die Türkei ihr Erpressungspotenzial überschätzt. Mehrfach haben türkische Politiker angekündigt, den Flüchtlingsdeal auszusetzen. „Wir sind heute aber deutlich besser aufgestellt als noch vor einem Jahr“, sagt die CDU-Europaabgeordnete Renate Sommer. Der gemeinsame Grenzschutz wurde verstärkt, die Balkanroute ist geschlossen.

Der große Wunsch der Türkei wiederum, die Visaliberalisierung, ist in weite Ferne gerückt, solange dort der Ausnahmezustand herrscht und das Land seine Antiterrorgesetze nicht entschärft. Optimist Avramopoulos glaubt zwar, dass die Visapflicht für Türken in absehbarer Zeit fallen könnte. „Wir sind entschlossen, die letzte Meile gemeinsam mit der Türkei zu laufen“, sagt er. Das Europäische Parlament müsste einer Abschaffung der Visapflicht allerdings zustimmen, und dort geht niemand davon aus, dass alle Bedingungen bald erfüllt werden. Außenexperte Lambsdorff plädiert deshalb für eine stufenweise Aufhebung, zunächst etwa für Wissenschaftler und Geschäftsleute.

Doch die Türken stellen sich hier stur. Ihr Standpunkt lautet: ganz oder gar nicht. Das ist der hohe Einsatz, mit dem Erdoğan pokert. Der Mann hält sich für unbesiegbar.

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