
In einer Zeit, da viele laut schreien, fällt es auf, wenn einer ruhig bleibt. Mehmet Şimşek, Vize-Ministerpräsident der Türkei und Superminister für Wirtschafts- und Finanzfragen, ist so einer. Wenn sein Präsident Recep Tayyip Erdoğan beinahe täglich poltert, die Türkei brauche die EU nicht, er werde notfalls die Grenzen öffnen und Europa mit Flüchtlingen überschwemmen, sich eher mit Russland oder China verbünden als mit Brüssel und Berlin – gerade dann gibt sich Şimşek betont sachlich. „Die EU ist und bleibt ein wichtiger Stabilitätsanker für die Türkei, eine Referenz für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, sagt er beim Treffen in einem Konferenzraum in Istanbul.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Şimşek, hager, randlose Brille, ist das liberale und kosmopolitische Aushängeschild der Regierungspartei AKP. Vielen gilt er als – letzter? – Garant des gesunden Menschenverstands; als einer, der kluge Wirtschaftspolitik und damit den Boom ermöglichte.
Şimşek kommt von ganz unten, er ist der neunte Sohn kurdischer Eltern, die kaum Türkisch sprachen und Analphabeten waren. Doch er absolvierte ein Wirtschaftsstudium in Großbritannien und wurde Chef-Stratege bei der Investmentbank Merryl Lynch.
Erst 2007 ging er in die Politik, als AKP-Abgeordneter der Stadt Gaziantep, nahe der syrischen Grenze. Sein Vorgänger Ali Babacan gilt als erster Architekt des jüngsten türkischen Wirtschaftswunders. Şimşek, ab 2009 Finanzminister, setzte diese Politik fort und führte die Türkei durch die Weltfinanzkrise. 2013 nahm ihn das Magazin „Foreign Policy“ in den Kreis der 500 mächtigsten Menschen der Welt auf. Der wirtschaftsliberale Flügel der AK-Partei ist unter dem polternden Präsidenten in den Hintergrund getreten. Aber es gibt ihn noch. Auch dank Şimşek.
Todesstrafe? Nein, danke.
Seine undankbare Aufgabe ist es, das Porzellan wieder zusammenzukehren, das Erdoğan zerbricht, und zugleich für mehr Verständnis zu werben. Während der Präsident über den maroden Zustand der EU schimpft, nennt Şimşek sie unbeirrt eine Erfolgsgeschichte von Frieden und Wohlstand.
Er vermittelt, wo Erdoğan provoziert. Die Todesstrafe werde nicht kommen. „Sie ist nicht auf der Agenda“, betont Şimşek mehrmals, allen Drohungen des Präsidenten zum Trotz. So ein Schritt, analysiert der Ökonom kühl, wäre nämlich der Sargnagel für EU-Beitrittspläne der Türkei. Aber er merkt auch an, wie wenig Europa das türkische Trauma nach dem Putschversuch im Juli begriffen habe. „Wir hätten uns mehr Vertrauen und Verständnis gewünscht.“
Allerdings droht gerade das Wirtschaftswunder zu zerbrechen, für das Şimşek verantwortlich zeichnete. Um drei Prozent soll die Wirtschaft 2016 nur noch wachsen, wenig für ein Schwellenland mit junger Bevölkerung. Der Kurs der Lira ist abgesackt, viele Anleger ziehen Kapital ab. Kann man es sich da leisten, mit dem Abbruch der Beziehungen zur EU zu drohen, wohin die Hälfte der türkischen Exporte fließen? Und, wie Erdoğan, auf ein System drängen, das weitgehend freie Hand zum Durchregieren ließe?
Şimşek meint: „Europa sollte der Verfassungsänderung unvoreingenommen gegenüberstehen. Sie wird die Türkei zu einer besseren Demokratie machen.“ Seine Regierung wolle bald einen Entwurf zum Umbau des Staates vorlegen, mit mehr Befugnissen für den Präsidenten, aber auch mit mehr Kontrolle durch Verfassungsorgane. Danach werde der Reformprozess in der Türkei neu aufleben. „Geben Sie uns eine Perspektive und seien Sie Motor für Veränderung, wie in Osteuropa nach dem Ende der Sowjetunion“, sagt er. „Die Türkei braucht Europa.“
Doch wie viel besser das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei sein könnte, wenn Erdoğan das selber sagen würde? Darauf hat auch Şimşek leider keine Antwort.