WirtschaftsWoche: Herr Wintergerst, die Ampel-Koalition hat einen digitalen Aufbruch versprochen, auf dem Digitalgipfel am Montag und Dienstag zieht sie nun eine Halbzeitbilanz. Was ist Ihr bisheriges Fazit: Liefert die Bundesregierung das, was sie angekündigt hat?
Ralf Wintergerst: Es ist bemerkenswert, dass der digitale Aufbruch im Jahr 2023 überhaupt noch ein Ziel sein muss – der hätte in Deutschland nämlich eigentlich längst passieren müssen. Und umso wichtiger ist es, dass sich die Ampel-Koalition ambitionierte Ziele gesetzt hat. An der Umsetzung hapert es nach zwei Jahren Regierungszeit allerdings noch immer.
Zieht sich der Rückstand durch alle Bereiche?
Nein, das lässt sich an unserem Digitalmonitor sehr gut ablesen. Wir untersuchen damit alle 334 digitalpolitischen Vorhaben, die im Koalitionsvertrag und in der Digitalstrategie aufgeführt sind. Bisher sind 43 Vorhaben abgeschlossen worden...
... also gerade einmal knapp 13 Prozent.
Genau – und selbst da muss man genau hinschauen. Denn ein Ziel des Arbeitsministeriums war beispielsweise, die digitalen Arbeitsverträge abzuschaffen – das wurde auch erreicht, was in der Konsequenz aber eben weniger Digitalisierung bedeutet. Das ist doch eher absurd. Oft geht es auch um kleinteilige Ziele, die zwar etwas Fortschritt bringen, aber nicht den großen Durchbruch.
Zur Person
Ralf Wintergerst ist seit Juni 2023 Präsident des Digitalverbands Bitkom, der mehr als 2200 Mitgliedsunternehmen aus den Bereichen Informations- und Telekommunikationswirtschaft zählt. Neben diesem Amt ist Wintergerst Vorsitzender der Geschäftsführung von Giesecke+Devrient (G+D), das Unternehmen mit Hauptsitz in München ist auf Sicherheitstechnologien in den Bereichen Bezahlen, Identitäten, Konnektivität und Digitale Infrastrukturen spezialisiert. Darüber hinaus ist Wintergerst Aufsichtsratsvorsitzender der secunet Security Networks AG (Essen) und Verwaltungsratspräsident der netcetera AG (Zürich).
Wintergerst hat Betriebswirtschaftslehre studiert, er hält zudem zwei Masterabschlüsse in den Fachgebieten Management und PPW (Politik Philosophie Wirtschaft) und hat an der Ludwig-Maximilians-Universität zum Thema Corporate Governance und Unternehmensführung promoviert. Wintergerst hat mehrfach die Deutsche Meisterschaft in Karate gewonnen.
Beispielsweise?
Etwa die digitale Aufzeichnung von strafgerichtlichen Hauptverhandlungen, die Digitalisierung der Flughafenabfertigungsprozesse oder eine Machbarkeitsstudie zum Grundbuch auf der Blockchain. Schlusslicht ist das Familienministerium, das bisher kein einziges digitalpolitisches Vorhaben abgeschlossen und 5 seiner 12 Vorhaben nicht einmal angefangen hat – und das Entwicklungshilfeministerium, das erst gar kein Digitalprojekt ins Programm nahm.
Digitaler Fortschritt sieht tatsächlich anders aus.
Es gibt aber Hoffnung. Die Funklöcher wurden geschlossen, bei 5G sind wir führend, der Glasfaserausbau kommt sehr gut voran. Und bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens erleben wir nach Jahrzehnten des Stillstands echte Durchbrüche. Insgesamt sind von den 334 Vorhaben der Bundesregierung 231 in Umsetzung, also immerhin in der Umsetzung, allerdings sind auch 60 Vorhaben noch gar nicht begonnen worden.
Können Sie konkrete Bereiche nennen, wo die Umsetzung besonders hinter den Erwartungen zurückbleibt?
Leider gibt es auch kaum Fortschritte bei einigen wirklich großen Themen wie der Digitalisierung der Verwaltung und dem Digitalpakt 2.0 für die Digitalisierung der Schulen, also bei zwei Säulen, die für ein digitaleres Deutschland unerlässlich sind. Aber daran ist nicht allein der Bund schuld, auch die Länder und Kommunen sind in der Verantwortung. Sie alle müssen besser zusammenarbeiten.
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Schon die Vorgängerkoalition ist daran gescheitert, die 575 Verwaltungsdienstleistungen bis Ende 2022 im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes zu digitalisieren. Warum scheitert offensichtlich auch die Ampel-Koalition bislang an dieser Aufgabe?
Es gibt eine ganz offizielle Regel, nämlich: Einer für alle. Das heißt, dass ein Bundesland eine digitale Lösung entwickelt, die dann von anderen Ländern übernommen wird – aber genau das passiert oft nicht, vielmehr gibt es Bereiche, wo eher ein „Einer gegen Alle“ zu beobachten ist. Ein Land will lieber sein eigenes Ding machen, und das ist leider eine große Bremse und keine Beschleunigung.
Mit welchen Folgen?
Wenn es 16 verschiedene Verwaltungsdienstleistungen gibt, kostet das nicht nur mehr Geld, sondern es gibt auch Chaos. Und das sollte ja eigentlich beendet werden. In den vergangenen zwei Jahren ist Deutschland in den internationalen Rankings für digitale Verwaltungsdienstleistungen weiter zurückgefallen. Das können wir uns nicht weiter leisten, wenn wir ein attraktiver Standort bleiben wollen. Die digitale Zeitenwende muss jetzt dringend kommen.
Mit Volker Wissing hat Deutschland auch erstmals einen Digitalminister bekommen, der zugleich allerdings auch Verkehrsminister ist. Hat sich dieses neue Modell bewährt?
Herr Wissing widmet sich seinem Amt zwar mit viel Engagement, aber leider fehlen ihm das Budget und das Durchgriffsrecht, um als Digitalminister wirklich etwas bewegen zu können. Da kann man ihm keinen Vorwurf machen, denn das ist von der Koalition so angelegt worden. Es gibt zwar einen Digitalminister, aber die Zuständigkeiten sind weiter über die Häuser verteilt.
Das heißt?
Das Innenministerium unter Nancy Faeser ist mit 73 digitalen Vorhaben sogar für die meisten Maßnahmen zuständig, gefolgt von Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger mit 54 Vorhaben. Wirtschaftsminister Robert Habeck obliegt die Verantwortung über 53 Vorhaben und erst dann kommt Volker Wissing mit 49 Maßnahmen. Die nächste Regierung sollte das Digitalministerium stärker aufstellen, so dass es die Umsetzung in den anderen Häusern antreiben kann.
Sie vertreten mit dem Bitkom mehr als 2200 Mitgliedsunternehmen. Ist die deutsche Wirtschaft denn bei der Digitalisierung besser aufgestellt als die Bundesregierung?
Wir haben von den großen Industriekonzernen über den Mittelstand bis zu Start-ups zahlreiche Unternehmen, die hervorragend aufgestellt sind – aber in der gesamten Breite ist der Aufholbedarf doch noch sehr groß. Das wissen auch die Unternehmen selbst. So sieht sich nur ein Drittel von ihnen als Vorreiter bei digitalen Lösungen, wie eine Bitkom-Studie zeigt. Zwei Drittel bezeichnen sich sogar selbst als Nachzügler – dabei sagen neun von zehn Unternehmen, dass Digitalisierung entscheidend sein wird für den Erfolg ihres Geschäftsmodells. Aber es kommt noch eine zweite Herausforderung hinzu.
Und zwar welche?
Viele der digitalen Lösungen, die hier genutzt werden, kommen aus den USA, aus China oder anderen asiatischen Ländern. Deutschland droht zur digitalen Kolonie zu werden. Die Wirtschaft muss ihren Kunden selbst digitale Produkte anbieten, sonst bleibt am Ende nur die Hardware bei den Autos oder im Maschinenbau. Damit wird künftig niemand lange wettbewerbsfähig bleiben. Die deutsche Wirtschaft muss da mutiger sein und mehr investieren.
Gilt das auch für die Schlüsseltechnologie Künstliche Intelligenz (KI)?
Ja. Bisher nutzen nur 15 Prozent der deutschen Unternehmen KI, das ist ein dramatischer Rückstand. Und auch hier gilt: Deutschland muss eigene KI-Anwendungen anbieten können, eine Finanzierungsrunde wie kürzlich beim Heidelberger Start-up Aleph Alpha ist toll, aber das darf kein Einzelfall bleiben. Ein einzelner Leuchtturm bringt wenig, wenn der ganze Standort zukunftsfähig bleiben soll.
Deutschland und Europa glänzen derzeit aber vor allem mit der Regulierung von KI.
Wir müssen aufpassen, die Zukunft nicht zu Tode zu regulieren. Datenschutz ist ohne Frage wichtig, aber leider werden die Regeln oft so eng gezogen, dass am Ende vor allem eins passiert: gar nichts. Keine Gefahr – aber auch kein Fortschritt. So geht es nicht. Mein Wunsch für die Digitalpolitik in der zweite Ampel-Halbzeit ist deshalb: mehr Mut zur Zukunft – und bitte mehr Tempo.
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