Gregor Gysi über die Wohnsituation in Berlin „In Berlin erscheint es mir angebracht, den Weg der Vergesellschaftung zu gehen“

Gregor Gysi (Die Linke), ist Mitglied im Bundestag und Rechtsanwalt. Quelle: dpa

Linken-Politiker Gregor Gysi über das Volksbegehren zur Enteignung des Konzerns Deutsche Wohnen, Wohnraum in öffentlichem Eigentum und leer stehende Wohnungen als Spekulationsobjekt.

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WirtschaftsWoche: Herr Gysi, in Berlin ist am Samstag ein Volksbegehren mit dem Ziel gestartet, Wohnungskonzerne wie Vonovia und die Deutsche Wohnen zu enteignen. Ist das 30 Jahre nach dem Ende des Sozialismus nicht ein schlechter Scherz?
Nein, auf keinen Fall. Die Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt ist höchst schwierig. Die Mieten steigen immer stärker und es entsteht eine sozial geteilte Stadt – für Berlin eine neue Situation.

Aber es gab doch auch früher bessere und schlechtere Wohngegenden.
Das mag sein. Aber jetzt werden Menschen, die im Zentrum wohnen, nach draußen verdrängt, weil sie sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten können.

Und das soll Enteignungen rechtfertigen?
Artikel 15 des Grundgesetzes sieht die Vergesellschaftung vor, wenn sie im Allgemeinwohl ist. Und auch wenn der Artikel selten angewendet wurde, kann er in dieser Situation greifen.

Löst der Staat die Probleme denn besser? Dass zu wenig gebaut wird, liegt doch auch an einer nur schlecht funktionierenden Verwaltung.
Es stimmt, es hätte mehr sozialen Wohnungsbau geben müssen, aber zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehört neben Wasserversorgung, Müllabfuhr, Krankenhäusern unter anderem auch das Wohnen. Es kann nicht sein, dass die Obdachlosigkeit zunimmt, weil sich Menschen Wohnen nicht mehr leisten können. Das heißt auch, Wohnraum muss öffentlich verantwortet werden oder – wenn nötig – sich im öffentlichen Eigentum befinden wie in Österreich. Deshalb erscheint es mir in Ausnahmefällen angebracht, diesen Weg zu gehen.

Berlin ist für Sie ein solcher Ausnahmefall?
Ja, und für mich gilt grundsätzlich: Konzerne und Großbanken sind zu mächtig. Die Deutsche Wohnen übertreibt es, erhöht ständig die Mieten, saniert zu wenig. Vonovia macht falsche Betriebskostenabrechnungen. Konzerne sollten ihre Macht nie auf diese Weise ausspielen. Allerdings heißt „Berlin ist eine Ausnahme“ für mich auch: Alles zwischen der staatlichen Daseinsvorsorge und den Großkonzernen und Großbanken soll eben nicht vergesellschaftet werden. Es soll sich in genossenschaftlichem Gruppeneigentum oder in Privateigentum befinden.

von Martin Gerth, Niklas Hoyer

Trotzdem: Sie sind Rechtsanwalt. Wie passt da Vergesellschaftung zur Marktwirtschaft?
Da sehe ich kein Problem. Wer enteignet wird, muss natürlich entschädigt werden. So steht es ja auch im Grundgesetz. Das Risiko für den Staat, der in Ausnahmefällen enteignet, liegt in der Höhe der Entschädigung.

Kritiker fürchten, die Enteignungen könnten Berlin bis zu 36 Milliarden Euro kosten.
Das halte ich für Panikmache, die Entschädigung muss „angemessen“ sein. Aber die Deutsche Wohnen würde sicher bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.

Aber sind langwierige Rechtsstreitigkeiten wirklich ein sinnvoller Weg, um den Wohnungsmangel abzumildern?
Natürlich können auch andere Maßnahmen noch helfen, eine echte Mietpreisbremse des Bundestages etwa.  Oder wenn man beschlösse, dass Zwangsräumungen nicht in die Obdachlosigkeit führen dürfen, vor allem dann nicht, wenn Kinder betroffen sind, weil Wohnen ein Grundrecht sein muss. Hinzu kommt, dass in Berlin rund 10.000 Wohnungen leer stehen, weil die Eigentümer hoffen, dass sie zu Gewerbeflächen werden. Das geht doch einfach nicht. Früher nannte man so etwas einen Skandal, heute wird es nur noch hingenommen.

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