Knauß kontert

Alte Politik-Rezepte für neue Probleme

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Warum wirkt die aktuelle Politik so wenig vertrauenerweckend? Weil sie auf die völlig neuartigen Gefahren des 21. Jahrhunderts mit den längst obsoleten Heilmitteln des 20. Jahrhunderts antwortet. 

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Altkanzler Gerhard Schröder hat sich in der WirtschaftsWoche zu Wort gemeldet. Er hat die Wirtschaftspolitik des designierten US-Präsidenten Donald Trump gut geheißen. Industriearbeitsplätze zurückzuholen, sei richtig, auch für Deutschland. Und dann der vielsagende Nachsatz: „Das ist die Aufgabe von Politik.“

Schröder geht es um das Überleben seiner eigenen Partei, für das er ein Rezept zu haben meint: „Nicht wenige SPD-Wähler sind für Parolen der AfD anfällig. Die muss die SPD wieder erreichen. Sie braucht dafür ein Thema – und das kann nur eins sein, das mit Arbeitsplätzen zu tun hat.“

Das Arbeitsplatzargument erschlägt alle anderen

Arbeitsplätze schaffen, für Wachstum sorgen. Das ist es, was Politiker seit den Krisen und Kriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ihre Kernkompetenz und Hauptaufgabe ansehen. Damit waren sie, ob Sozialdemokraten, Liberale oder Christdemokraten erfolgreich. Sie schufen nach wechselnden Rezepten von Keynes bis Hayek die Bedingungen für Wirtschaftswachstum. Und dieses war – mal mehr mal etwas weniger – die Bedingung für neue Arbeitsplätze.

Mit dem Arbeitsplatz-Argument ließ sich jede Kritik abbügeln. Sei es die Warnung vor zu hoher Inflation oder Staatsverschuldung, sei es der Wunsch nach Schonung für die Natur. „Sozial ist, was Arbeit schafft“, dieser apodiktische Leitsatz, erfunden vom deutschnationalen Presse-Zaren und Hitler-Steigbügelhalter Alfred Hugenberg, ist in unzähligen Talkshows von Politikern aller Parteien gefallen. Es ist vermutlich eine der populärsten Politphrasen aller Zeiten.

Gleichzeitig mit Schröders Aussage meldet das ifo-Institut, die  größte Sorge der deutschen Unternehmen mit Blick auf das kommende Jahr sei der wachsende Fachkräftemangel. Seltsam, dass der Widerspruch zwischen behauptetem Arbeitsplatzschaffungsbedarf und Mangel an Menschen für diese Arbeitsplätze offenbar als solcher kaum wahrgenommen wird. Wenn Parolen sich als vermeintlich zeitlose Wahrheiten eingebrannt haben, fallen ihre historischen Bedingtheiten eben nicht mehr auf. So hat sich die politische Sphäre ihre eigene Scheinwirklichkeit geschaffen.

Im jüngst auf dem Bundesparteitag von Essen verabschiedeten Leitantrag der CDU kommt der Widerspruch in ein und demselben Satz unter: "Wenn wir vorhandene Arbeitsplätze sichern und neue Arbeitsplätze schaffen, müssen wir den dazu erforderlichen Fachkräftebedarf auch bei kleiner werdenden Geburtsjahrgängen sichern.“  Die Wirtschaft soll also wachsen, um Arbeitsplätze zu schaffen, für die es keine Menschen gibt. Die muss man dann herbeischaffen durch „weiter zunehmende Beschäftigung von Frauen, höhere Erwerbsquote älterer Menschen sowie auf den gesteuerten Zuzug von Fachkräften...“ Nicht - wie die CDU immer behauptet - der einzelne Mensch als Ebenbild Gottes, steht also im Zentrum ihrer Politik, sondern ein Fetisch namens "Arbeitsplatz" alias Wirtschaftswachstum, dem die Menschen sich als "Fachkräfte" (als "Kräfte"!) zu unterwerfen haben. Wer kann sich da noch wundern über die Angst vieler Bürger vor der Arbeitswelt der Zukunft und über den Verlust des Vertrauens in eine Partei, die vom "christlichen Menschenbild" salbadert, während sie tatsächlich einen Fetisch anbetet.

Auf grundlegend veränderte Probleme und Bedürfnisse im frühen 21. Jahrhundert reagiert die etablierte Politik mit einem sturen „more of the same“, mit der fortgesetzten oder gar intensivierten Anwendung althergebrachter Rezepte des 20. Jahrhunderts. Das endende Jahr 2016 war geprägt von der daraus erwachsenden Repräsentationskrise, die sich in den bekannten Wahlergebnissen offenbarte.

Probleme der Gegenwart

Die Probleme der Gegenwart sind eben keine Variationen der Krisen des 20. Jahrhunderts. Sie sind zwar – selbstverständlich – nur mit historischer Perspektive verstehbar, aber aus der jüngeren Vergangenheit sind keine Blaupausen zu entnehmen, wie ihnen zu begegnen wäre. Politisches Erfahrungswissen ist weitgehend wertlos geworden. Im Gegenteil: Die Antworten des alten Jahrhunderts dürften die neuen Probleme der westlichen Gesellschaften im 21. Jahrhundert eher noch verschärfen.

Die ökologischen, ökonomischen, sozialen und menschlichen Begrenztheiten werden immer offensichtlicher. Sie zu ignorieren führt zu immer größeren Verspannungen und Konflikten: Wirtschaftswachstum voranzutreiben, von dem nur eine kleine, ohnehin schon extrem reiche Minderheit profitiert, überfordert immer weitere Bevölkerungsschichten und – das ist das wichtigste – die natürlichen Lebensgrundlagen. „Machen wir so weiter, laufen wir gegen Wände“, stellt Meinhard Miegel fest. 

   

Produktive Gesellschaften haben Fachkräftemangel

Die gefährliche Dynamik der neuen, historisch beispiellosen Konflikte, die die Politik mit alten, scheinbar historisch bewährten Antworten eher verschärft als mildert, äußert sich am deutlichsten in der Demografie.  Selbst wenn die Zunahme der Weltbevölkerung bis zur Mitte dieses Jahrhundert aufhören sollte, wie es die meisten Demografen erwarten, so bleibt doch das große Ungleichgewicht der Reproduktionsraten bestehen: die weitere Steigerung der Produktivität in den früh industrialisierten Ländern wirkt ganz offensichtlich negativ auf deren Reproduktivität. Gesellschaften, die Menschen in den Dienst der Wirtschaft stellen, statt die Wirtschaft in den Dienst der Menschen, sterben aus. Oder um es in die entmenschlichende Sprache der Ökonomen zu übersetzen: Sie leiden unter Fachkräftemangel. Die unproduktivsten Gesellschaften dagegen sind höchst reproduktiv.

Damit sind wir bei der Einwanderung und der Frage der staatlichen Souveränität über die Grenzen. Auch hier handelt die hergebrachte Politik, vor allem in Deutschland, nach der Devise: Alte Rezepte des 20. Jahrhunderts  für völlig neue Problemlagen im 21. Jahrhundert.

Die Erfahrung der Weltkriege und damit verbundenen Weltwirtschaftskrisen lies die Überlebenden in Europa eine naheliegende Lehre ziehen: Nationale Grenzen sind zum Überwinden da. Das Wort hat einen Beigeschmack des Unanständigen für jeden „guten Europäer“.

Schlagbäume einzureißen, Grenzen zu „überwinden“ war jahrzehntelang, in jener zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die wohl als glücklich in die Geschichte eingehen wird, ein gutes Werk. Aber das  Jahr 2016 hat nun allzu offensichtlich gezeigt, dass die Abschaffung der Kontrolle über die eigenen Landesgrenzen unter den Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts  eben keine Garantie für das Glück aller Menschen ist.

Die kurze Lebensgeschichte des Anis Amri macht deutlich:  Unser Staat, seine Behörden und vor allem seine politisch Verantwortlichen sind auf Bedingungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingestellt. Sie sind eingestellt auf Bürger, die angesichts der Leidenserfahrungen und Schuld ihrer Ahnen eine Kultur der Friedfertigkeit und der Ökonomisierung aller Interessenskonflikte verinnerlicht haben. Auf Bürger mit festen Wohnsitzen, geregelten Arbeitsverhältnissen, gültigen Steuernummer, gültigen KFZ-Kennzeichen und gültigen Ausweispapieren. Kurz: auf Menschen, die etwas zu verlieren haben, in einer Wohlstandsgesellschaft, die umgeben ist von ganz ähnlichen, europäischen Wohlstandsgesellschaften eingerichtet. Unter solchen Voraussetzungen, konnte man die Schlagbäume an den Landesgrenzen einreißen und die Mannschaftsstärke bei Polizei und Militär abbauen – und stattdessen wahlweise den Sozialstaat ausbauen oder weiteres Wirtschaftswachstum ankurbeln.

Amri und einige andere Zuwanderer, die man gerne für schutzbedürftige Flüchtlinge halten wollte, haben nun gezeigt, dass diese Bedingungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr bestehen.  Der Erzwingungsapparat der alten Bundesrepublik ist auf Falschparker und Steuerhinterzieher eingerichtet, aber nicht auf Menschen wie Amri, die nicht die geringsten Skrupel haben, die Lücke zwischen Gesetzen und ihrer Erzwingung auszunützen. Mit dem Bekanntwerden  der Details aus Amris letzten Lebensjahren in Deutschland ist der Glaube, auf Gewaltmittel des Staates zur Sicherung des inneren Friedens verzichten und sie durch Sozial- und Konjunkturpolitik ersetzen zu können, zerplatzt.

Was sind die neuen, zeitgemäßen Rezepte für die Probleme des 21. Jahrhunderts? Niemand weiß das genau. Aber es gibt ein Regelsystem, das Finden von Antworten und den Streit darüber auf friedliche Weise ermöglicht.  Die „offene Gesellschaft“ , die derzeit so oft beschworen wird, zeichnet sich dadurch aus, dass sie eben nicht festgelegt ist auf einen bestimmten Weg in eine vorgegebene Zukunft. In ihr wird um Wahrheiten und politische Maßnahmen gestritten und abgestimmt. Nichts ist in einer offenen Gesellschaft alternativlos – außer der Geltung der Gesetze. Eine Politik, die früher richtig und allgemein akzeptiert war, kann in ihr morgen falsch und inakzeptabel werden. Das gilt erst recht für Parteien und Politiker.

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