Ökonomisierte Demokratie Wie ein Ökonom das politische System erneuern will

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"Verträge" mit dem Wähler

CPS-Modelle könnten bei der Abgrenzung gegenüber populistischen und extremen Parteien helfen, so Gersbach – die „Zertifizierung“ soll laut Studie eine „staatliche Autorität“ übernehmen, etwa der Bundespräsident. Die Studie, derzeit im Begutachtungsprozess eines führenden Journals für Spieltheorie, schlägt bei Verstößen gegen die Selbstbindung harte Sanktionen vor, etwa Einschnitte bei der staatlichen Parteienfinanzierung oder das Verbot, Parteivertreter in die Regierung zu entsenden. Für Gersbach ist es „eine Grundfrage der Demokratie, wie man mit gebrochenen Wahlversprechen umgeht“. Und das gilt nicht nur für die Koalitionsfrage, sondern generell für Wahlversprechen. „Die beste Medizin gegen bewusste Wählertäuschung wären Sanktionen gegen wortbrüchige Politiker“, glaubt der Ökonom. Auch hier könne man die Parteienfinanzierung an das Einhalten von überprüfbaren Wahlversprechen koppeln.

Möglich wäre auch, die Wiederwahl von Politikern an Bedingungen zu knüpfen. Ein ETH-Working-Paper von Gersbach nennt dies History-bound Reelection. In diesem Konzept darf ein Politiker bei einer Wahl sein bestes Ergebnis der Vergangenheit nicht deutlich unterschreiten – was tendenziell der Fall wäre, wenn er die Wähler getäuscht hat. Auf diese Weise soll zugleich der politische Wettbewerb intensiviert werden und die Gefahr sinken, dass sich Amtsträger auf ihrem Amtsbonus ausruhen.

Aktuell laufen in Zürich auch mehrere Forschungsprojekte zum sogenannten Co-Voting. „In repräsentativen Demokratien haben Mehrheit und Minderheit ihre Entscheidungskompetenz mit dem Wahlzettel abgegeben bis zur nächsten Wahl – das ist möglicherweise zu lang“, warnt Gersbach. Als Alternative schlägt er ein neues Abstimmungssystem vor.

Es sieht vor wichtigen Entscheidungen im Parlament eine repräsentative Beteiligung der Bevölkerung in Form einer Meinungsstichprobe vor: Die Auserwählten stimmen als Teilmenge der Wählerschaft ebenso wie das Parlament über das jeweilige Projekt ab. Die Resultate werden gewichtet und zu einem Endergebnis zusammengefasst. Bei einem knappen Ja im Bundestag und einem klaren Nein in der Bevölkerung wäre eine Vorlage gescheitert. Speziell für die Schweiz mit ihren starken plebiszitären Elementen schlägt Gersbach in seinem 2017 erschienenen Buch „Redesigning Democracy“ zudem ein Assessment Voting vor. Bei Volksabstimmungen soll zunächst eine Vorrunde mit einer begrenzten Zahl von Teilnehmern stattfinden. Gibt es dabei ein klares Ja oder Nein, könnte man auf die landesweite Abstimmung verzichten – und Kosten sparen.

Tendenz zur Wohlfühlgesellschaft

Wie realistisch sind die Vorschläge? Dass sich Parteien als privilegierte Träger der politischen Willensbildung für sie begeistern, ist wenig wahrscheinlich. Aber auch inhaltlich müssen sich die Demokratiereformer kritische Fragen gefallen lassen. Gersbach, der bereits in seiner Dissertation 1991 („Informationseffizienz bei Mehrheitsentscheidungen“) auf politökonomischen Pfaden wandelte, steht zwar mit Verfassungsjuristen in Kontakt, um die rechtliche Seite seiner Reformideen abzuklopfen. Allerdings könnten neodemokratische Verfahren auch nach hinten losgehen. Ein CPS-Modell etwa hätte das Rumeiern der SPD in der Koalitionsfrage wohl verhindert, allerdings stünde Deutschland dann womöglich noch immer ohne Regierung da. Hätten die Deutschen über die Hartz-Reform mitabstimmen dürfen, wäre sie vielleicht nie gekommen – und das deutsche Arbeitsmarktwunder auch nicht. Am Ende könnte die stärkere Einbindung der Wähler ins politische Tagesgeschäft dafür sorgen, dass notwendige Veränderungen ausgebremst werden.

„Diese Bedenken spielen eine große Rolle in der Forschung über neue Formen der Demokratie“, gesteht Gersbach. Doch nach den bisherigen Analysen überwiegen für ihn die Vorteile. Die Politik könne bei ihren Bürgern durchaus auch mit harten Versprechen punkten – wenn sie die Mehrwertsteuer oder die Schulden nicht erhöhen will oder konkrete Arbeitsmarktziele setzt.
Vielleicht sollten wir also Elemente der demokratischen Vitalisierung einfach mal ausprobieren. Ansprechpartner in höchster politischer Position hätte Gersbach durchaus: Der Schweizer ist seit 2015 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats im deutschen Bundeswirtschaftsministerium.

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