Otmar Issing „Inflation von 1 bis 1,5 Prozent ist das Reich der Seligen“

Otmar Issing: „Die Position der Bundesbank war einmalig in der Welt“ Quelle: imago images

Als erster Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank hat Otmar Issing das Fundament der Geldpolitik im Euroraum gelegt. Warum er die heutige Zinspolitik kritisiert und die Unabhängigkeit gefährdet sieht.

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Vier Namen, eine Botschaft: „Amerika braucht eine unabhängige Zentralbank“. Dieser Appell, erschienen im „Wall Street Journal“, kam in dieser Woche aus der Ahnengalerie der amerikanischen Notenbank: Unterschrieben haben ihn Paul Volcker, Alan Greenspan, Ben Bernanke and Janet Yellen – allesamt frühere Präsidenten der Federal Reserve.

Otmar Issing teilt ihre Sorgen und münzt sie zugleich auf die Europäische Zentralbank. Deren erster Chefvolkswirt war Issing zwischen 1998 und 2006. Noch heute ist seine Expertise als Präsident des Center for Financial Studies der Frankfurter Goethe-Universität unter Notenbankern gefragt.

Herr Issing, es gibt zig aktuelle Beispiele, wie Notenbanker unter Beschuss geraten von Seiten der Politik, nicht nur in den USA. Erleben wir den Anfang vom Ende einer historischen Episode, in der Zentralbanken zum Wohle der Volkswirtschaft unabhängig agieren?
Otmar Issing: Die Attacken der Politiker sind eine zweischneidige Sache. Sie können auf der einen Seite dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit das Vertrauen in die Notenbank verliert. Sie können aber auch dazu führen, dass die Unabhängigkeit Glaubwürdigkeit erfährt und eher noch gestärkt wird. Das war zum Beispiel bei der Bundesbank der Fall.



Wie meinen Sie das?
Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer hat 1956 eine heftige Attacke auf die Bundesbank geritten. Aber das hat dazu beigetragen, dass die Bundesbank in der Bevölkerung noch populärer wurde. Die Öffentlichkeit stand auf Seiten der Bundesbank. Es kam im Nachkriegsdeutschland etliches zusammen, was sie in diese etwas überhöhte Position gebracht hat. Jacques Delors …

… der frühere Präsident der Europäischen Kommission …
… soll mal gesagt haben: Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle glauben an die Bundesbank. Das war einmalig in der Welt, diese Position gibt es nicht mehr.

von Karin Finkenzeller, Malte Fischer, Julian Heißler, Stefan Reccius, Christof Schürmann, Silke Wettach

Macht Ihnen Sorge, was Sie gegenwärtig beobachten?
Die Bundesbank war lange die einzige unabhängige Notenbank in der Welt. Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger hat sich dieses Modell unabhängiger Notenbanken in der ganzen Welt explosionsartig ausgebreitet. Das ist also eine relativ neue Erscheinung. Ich bin der festen Überzeugung, das war der Höhepunkt. Die gegenwärtige Entwicklung zeigt, dass diese Unabhängigkeit getestet wird und dass sie alles andere als selbstverständlich ist.

Der Status der Europäischen Zentralbank ist rechtlich so abgesichert wie bei keiner anderen Zentralbank, er lässt sich nur einstimmig ändern.
Dass man im Vertrag von Maastricht die Europäische Zentralbank mit dem Status der Unabhängigkeit versehen hat, hatte zwei Gründe: Erstens hat die Wissenschaft in der damaligen Zeit viele empirische Belege vorgelegt, dass Geldwertstabilität und Unabhängigkeit eng zusammenhängen. Salopp gesagt: Ohne Unabhängigkeit kein stabiles Geld.

Und der zweite Grund?
Das ist die Erfahrung mit der Bundesbank. Ich glaube, die Deutschen hätten den Vertrag von Maastricht nie unterschrieben, ohne dass die EZB den Status der Unabhängigkeit bekommt.

Die EZB hat ihr Mandat immer weiter gedehnt. Hat sie sich mit dem Einsatz unkonventioneller Instrumente wie dem Kauf von Staats- und Unternehmensanleihen den Vorwurf, sich von der Politik vereinnahmen zu lassen, nicht selbst zuzuschreiben?
Hier muss man zwei Dinge auseinanderhalten. Das Mandat der EZB lautet Erhalt der Preisstabilität. Auf meinen Vorschlag hin hat der EZB-Rat im Oktober 1998 beschlossen: Wir verstehen Preisstabilität als einen jährlichen Anstieg der Verbraucherpreise unter zwei Prozent. Dass die EZB seit einigen Jahren versucht, die Inflationsrate in Richtung zwei Prozent nach oben zu bewegen, halte ich für eher problematisch. Ich halte eine Preissteigerungsrate von ein bis 1,5 Prozent, wenn keine Deflationsgefahren zu sehen sind, fast für das Reich der Seligen. Das hätten wir uns immer gewünscht.

Neben ihrer Kernaufgabe Zinspolitik hat sich die EZB immer einfallsreicher gezeigt, mit Anleihekäufen, Langfristkrediten und Negativzinsen für Geschäftsbanken.
Die EZB hat ihr Mandat insofern ausgedehnt, als sie – vor allem mit den berühmten Worten von Mario Draghi, alles zu unternehmen, was notwendig ist, um den Zusammenhalt des Euroraums zu garantieren – eine politische Zielsetzung verfolgt. Aber das ist kein Mandat einer unabhängigen Notenbank. Die Gefahr für die Unabhängigkeit sehe ich darin, dass sie ihr Mandat ausgeweitet hat in Richtung einer politischen Verantwortung.

Andere sagen, Draghis „Whatever it takes“-Ausspruch 2012 in London habe den Euro gerettet. Sie halten es für den ersten Sündenfall?
Man muss zwei Jahre weiter zurückgehen. Im Mai 2010 trafen sich die Finanzminister in Brüssel. Auf dieser Sitzung hat der damalige Notenbankpräsident Jean-Claude Trichet die Lage sehr dramatisch geschildert und betont, dass es auf den Märkten riesige Turbulenzen geben würde, wenn nichts geschieht. Weil die Finanzminister nicht in der Lage waren, schnell genug zu reagieren, hat die EZB sich bereiterklärt, am Montag zu intervenieren und Staatsanleihen von gefährdeten Staaten zu kaufen: italienische, griechische. Das war der erste Sündenfall. Allerdings war die EZB damals in einer Notlage, das war eine Lose-Lose-Situation.

Hatte sie also überhaupt eine Wahl?
Die EZB hätte klarmachen müssen, das war ein Notfall – ein für alle Mal, nie mehr. Stattdessen wurde sie anschließend in Rettungsprogramme eingebunden, und die Politik hat es versäumt, eindeutige Entschlüsse zu fassen, um für eine neue Krise vorbereitet zu sein. Das Versagen der Politik hat die EZB in diese Situation gebracht.

Wie hätte sie da herauskommen können?
Die berühmte Erklärung Draghis und das spätere Verhalten der EZB haben den Eindruck erweckt, die Politik kann sich drauf verlassen, grob ausgedrückt: Wenn wir unsere Arbeit nicht tun, holt die Europäische Zentralbank für uns die Kastanien aus dem Feuer. Dabei ist es geblieben. Der Kauf von Staatsanleihen hat dazu geführt, dass manche Länder wie Irland und Spanien die Zeit genutzt haben für Reformen, andere wie Italien hingegen überhaupt nicht. Es ist bezeichnend, dass der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Monti mehrmals beklagt hat, dass die Käufe der EZB verhindert haben, dass die Zinsen steigen, und so der Reformdruck geschwächt wird. Das ist die Kehrseite dieser Garantie.

Sind unabhängige Zentralbanken ein Auslaufmodell – auch in der Eurozone?
Das Mandat der EZB kann nicht sein, eine Währungsunion mit beliebig vielen Ländern so zu garantieren, dass kein Land trotz schlechter Politik in Schwierigkeiten kommt. Das ist nicht Aufgabe einer unabhängigen Notenbank.

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