Tarifrunde 2022 „Es ist Zeit für eine ordentliche Lohnerhöhung“

Der gelernte Energieanlagen-Elektroniker Knut Giesler, ist seit Oktober 2012 Chef der IG Metall NRW und hat bereits einige Pilottarifverträge in der Metall- und Elektroindustrie ausgehandelt. Quelle: imago images

Der nordrhein-westfälische IG-Metall-Chef Knut Giesler rechnet mit einer anhaltend hohen Inflation in Deutschland – und will in der kommenden Tarifrunde steigende Reallöhne durchsetzen.

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Knut Giesler, 57, ist seit Oktober 2012 Chef der IG Metall in Nordrhein-Westfalen. Der gelernte Energieanlagen-Elektroniker zählt zu den einflussreichsten Bezirksleitern der größten deutschen Gewerkschaft und hat bereits einige Pilottarifverträge in der Metall- und Elektroindustrie ausgehandelt.

WirtschaftsWoche: Herr Giesler, die Inflationsrate in Deutschland liegt über fünf Prozent, viele Arbeitnehmer mussten 2021 Reallohnverluste hinnehmen. Wie will die IG Metall in den anstehenden Tarifrunden im Stahlbereich und in der Metall- und Elektroindustrie darauf reagieren?
Knut Giesler: Wir gehen in unseren tarifpolitischen Planungen davon aus, dass die Inflationsrate 2022 deutlich über dem Schnitt der vergangenen Jahre liegen wird und wir bei über drei Prozent landen werden. Das muss sich natürlich in der Lohnrunde niederschlagen. Wir schauen uns in der ersten Jahreshälfte und vor allem im zweiten Quartal genau an, wohin sich die Preise und die gesamte Konjunktur entwickeln.

(2021 sind die Reallöhne gesunken. Nun droht ein Lohnschub, der die Inflation in Deutschland befeuern könnte. Mehr über die Hintergründe der Tarifpolitik erfahren Sie hier.)

Anders ausgedrückt: Diesmal geht es Ihnen vor allem ums Geld und weniger um qualitative Aspekte oder Arbeitszeitfragen.
Ja. Es gibt für uns einen klaren Fokus auf das Thema Tabelle. Die IG Metall hat in den Pandemiejahren 2020 und 2021 eine verantwortungsvolle Tarifpolitik gemacht, die letzte tabellenwirksame Erhöhung der Monatsentgelte in der Metall- und Elektroindustrie gab es 2018. Jetzt ist es Zeit für eine ordentliche Erhöhung – zumal die Wirtschaft ja nicht so stark eingebrochen ist wie von vielen Experten befürchtet. Die absolute Untergrenze für einen Abschluss ist für uns eine Reallohnsicherung mit einem Aufschlag. Am Ende des Jahres müssen unsere Kolleginnen und Kollegen preisbereinigt mehr im Portemonnaie haben als vorher.

Die Inflation setzt die Gewerkschaften unter Zugzwang. Sie wollen in der Tarifrunde 2022 spürbare Reallohnzuwächse für die Beschäftigten durchsetzen. Damit steigt das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale in Deutschland.
von Bert Losse

Machen wir es konkret: Im Bereich Holz/Kunststoff hat die IG Metall gerade mit 2,7 Prozent ab April 2022 abgeschlossen, im April 2023 gibt es nochmal 2,2 Prozent oben drauf. Sind das Hausnummern auch für die Metall- und Elektroindustrie?
Sagen wir mal so: Dies war ein sehr ordentlicher Abschluss, zumal noch diverse Zusatzleistungen hinzukommen. Aber es ist zu früh, daraus etwas für den Herbst 2022 abzuleiten. Was gilt, ist die alte Tarifregel, dass die Lohnzuwächse höher sein müssen, wenn die Laufzeit des Vertrages länger ausfällt – und umgekehrt.

Wie sieht Ihr Zeitplan für die Tarifrunde aus? Ab wann müssen Arbeitgeber mit den obligatorischen Warnstreiks der IG Metall rechnen?
Die internen Vorbereitungen auf die Tarifrunde beginnen Ende Mai, die Tarifforderung kommt im Juli. Die Friedenspflicht gilt bis Ende Oktober. Wir haben diesmal nur einen schmalen Lösungskorridor von gut sechs Wochen. Notfalls müssen wir da den großen Hammer rausholen. Wir wollen die Tarifrunde nicht in die Weihnachtsferien mitnehmen.

Bei der vergangenen Metall-Tarifrunde gab es eine „Corona-Anerkennungsprämie“ für die Beschäftigen. Diesmal wieder?
Die Prämie war Teil des Lösungspakets 2021. Ich glaube, dass man ein solches Instrument im September 2022 so nicht mehr braucht.

Eine Besonderheit für die Tarifpolitik in diesem Jahr ist, dass die Regierung den Mindestlohn drastisch auf zwölf Euro anhebt. Zwingt das die Gewerkschaften, überproportionale Lohnzuwächse für untere Entgeltgruppen zu vereinbaren damit der Abstand gewahrt bleibt?
Wir analysieren gerade, wo ein Mindestlohn von zwölf Euro unsere Tarifverträge unterläuft. Das trifft nur auf wenige Fälle zu, etwa im Textilbereich. Insgesamt ist der Mindestlohn für die M+E-Industrie irrelevant – hier gibt es selbst für einfachste Tätigkeiten gut 17 Euro. Ein Facharbeiter liegt bei rund 25 Euro. Richtig ist gleichwohl: Steigende Mindestlöhne haben immer eine Fernwirkung auf die Tariflöhne. Prinzipiell muss Tarifpolitik für die Arbeitnehmer attraktiver sein als staatliche Verordnungen. Und da bewegen sich Gewerkschaften durchaus in einem Spannungsfeld: Wir müssen die Löhne in unteren Tarifgruppen anheben – dürfen aber nicht vergessen, dass einfache Tätigkeiten ins Ausland abwandern oder wegrationalisiert werden, wenn wir sie zu stark verteuern.

Wie hat sich die Pandemie 2021 auf die Mitgliederzahlen der IG Metall ausgewirkt?
Die genauen Zahlen liegen noch nicht vor, aber es dürfte wenig überraschend unter dem Strich ein kleines Minus herauskommen. Die meisten Neumitglieder werden ja immer noch im direkten persönlichen Gespräch gewonnen, etwa über Betriebsräte und Vertrauensleute in den Unternehmen vor Ort. Kontaktbeschränkungen und Homeoffice sind da – organisationspolitisch gesehen – kontraproduktiv. Eine Kommunikation von Angesicht zu Angesicht läuft ja anders als von Bildschirm zu Bildschirm.



Der Trend zum Homeoffice wird auch nach Corona anhalten. Zugleich verändert die Digitalisierung die gesamte Arbeitswelt. Kann die noch immer sehr traditionelle IG Metall da überhaupt noch mithalten?
Keine Frage: Die IG Metall muss sich neu erfinden. Wir müssen uns organisatorisch umstellen und mit den Menschen anders kommunizieren. Wir werden das Rad nicht zurückdrehen können, Homeoffice und digitale Kommunikation bleiben auch nach Corona. Intern laufen dazu bereits viele Projekte, und im Mai wird es einen großen Kongress geben.

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