Tauchsieder
Der Machtkampf um die Kanzlerkandidatur in der Union zwischen Armin Laschet und Markus Söder zieht sich hin. Quelle: imago images

Die Union geht immer als Sieger vom Platz

Markus Söder deklassiert Armin Laschet. Die CDU zerlegt sich. Und auch sonst sieht es mit Blick auf die Bundestagswahl im Herbst ganz ausgezeichnet aus für die Christdemokraten. Eine Bilanz des Machtkampfes.

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Politische interessierte Zeitgenossen können in diesen Tagen Nachrichtenseiten ansteuern, um sich in den Bann des Machtkampfes zwischen Armin Laschet und Markus Söder ziehen zu lassen. Oder Sir Arthur Conan Doyle lesen. Der britische Arzt ist heute berühmt als Verfasser von Detektivgeschichten; dabei gebührt ihm vor allem ein Platz im Pantheon der Ökonomen und Soziologen. Doyle hat mit Sherlock Holmes und Professor Moriarty die Spieltheorie erfunden. Und Niklas Luhmann das Stichwort vom „Beobachter zweiter Ordnung“ geschenkt.

Lesen wir also, zur Veranschaulichung der wundersamen Laschet-Söder-Saga, die Erzählung „Das letzte Problem“ (1893) – auch weil der Titel so schön passend ist. Das Duell zwischen Sherlock Holmes und seinem Gegenspieler Moriarty spitzt sich am Ende des zweiten Bandes dramatisch zu und treibt seiner Entscheidung entgegen: Sherlock verlässt den Bahnhof London, um sich vor Moriarty nach Dover zu flüchten. Weil Sherlock aber bei der Abreise beobachtet, dass Moriarty ihn beobachtet und deshalb fürchtet, Moriarty könne mit einem Schnellzug an ihm vorbei dampfen, um ihn in Dover zu stellen, erwägt Sherlock, bereits in Canterbury auszusteigen. Aber was, wenn Moriarty erwägt, dass Sherlock erwägt, dass Moriarty erwägt, in Canterbury auszusteigen…? Es ist ein zirkelschlüssiges Problem. Canterbury oder Dover? Jede „Lösung“ könnte sich als fatal erweisen.

Düsseldorf oder München? Für die so genannte „Union“ ist jede Lösung keine Lösung. Das chicken game zwischen Laschet und Söder hinterlässt zwei angeschlagene Spitzenpolitiker, zwei schwer verwundete Parteien: Die beiden Züge sind eine Woche lang aufeinander zugerast und haben sich am Ende nicht mehr ausweichen können. Noch schwerer aber wiegt, dass sich die beiden Kontrahenten in dieser Woche so intensiv beobachtet, belauert und beargwöhnt haben, dass sie sich nurmehr in Missgunst und Misstrauen, in tief empfundener Feindschaft verbunden fühlen können.

Aus einem politischen Feiglingsspiel geht am Ende immer ein Sieger hervor. Aber eine second-order observation, die die bösen Absichten eines Kontrahenten antizipiert, der wiederum antizipiert, dass sein Konkurrent sie antizipiert – das setzt, schlag nach bei Doyle, eine Spirale des (re-)agierenden Argwohns, Verdachts und Wahns ins Gang, aus der so leicht kein Weg mehr herausführt. Zumal Markus Söder genau wusste, was er tat. Er gefiel sich sehr als James Dean in der Rolle Jim des Starken – und rechnete bis zuletzt fest damit, den chicken run zu gewinnen: ein Großmeister des politischen brinkmanship, fürwahr.

Denn wenn Söder Laschet am Ende auch nur an den Rand des Abgrunds und nicht darüber hinaus befördert hätte – was soll’s? Söder kann mit dem Argwohn und der Missgunst Laschets besser leben als Laschet mit dem Argwohn und der Missgunst Söders. Der CSU-Chef hat als Madman in der Tradition Richard Nixons agiert und die CDU gelehrt, dass mit seiner Unberechenbarkeit unbedingt zu rechnen ist, dass er zum Äußersten bereit ist, um Kanzlerkandidat der Union und Kanzler des Landes zu werden – wenn sich ihm die Gelegenheit dazu bietet.

Und – ist daran etwas auszusetzen? Im Gegenteil. Macht ist die Leitwährung der Politik, ihr zentraler Code, um noch einmal an Niklas Luhmann zu erinnern: Ein Politiker ohne (den Willen zur) Macht hat sich in seinem Beruf geirrt. Man kann es auch anders, mit Karl Marx ausdrücken: Es geht in der Politik um die Akkumulation von Stimmungen und die Wertextraktion von Wählerstimmen – Stimmungen und Stimmen sind sozusagen die Rohstoffe, aus denen Politiker die Macht raffinieren, um Ideen, Programme und Weltanschauungen als politische Waren unters Volk zu bringen.

Freilich, das „um“ ist dabei entscheidend: Macht ist ein Mittel und Medium, daher um ihrer selbst willen zynisch, zwecklos, hohl. Sie muss sich, ähnlich wie das Geld, mit Zielen und Zwecken verbinden und laufend rückbezogen werden auf die Stimmungen und Stimmen, denen sie ihre Ausübung verdankt. Wenn aber die Ziele und Zwecke Laschets und Söders gleich (minimal) sind, bleiben nur noch die Stimmungen und Stimmen. Der Verweis auf Umfragewerte ist daher kein taktisches Argument von Söder, vielmehr das elementarste Argument eines Politikers der hohlen CDU-Mitte überhaupt: Allein die Zu-Stimmung der Wähler legitimiert seine Macht. Natürlich, wenn sich einer frischen Umfrage von infratest dimap zufolge 72:17 Prozent der CDU/CSU-Anhänger wünschen, Söder möge die Schwesterparteien anstelle von Laschet in die Bundestagswahl führen, können die Gremien der CDU das geflissentlich ignorieren. Aber politisch klug, im Sinne eines Willens zur Macht, ist es nicht.

Was aber ist es dann? Vor allem dreierlei: Ein Zeugnis taktischen Unvermögens. Ein Ausdruck programmatischer Leere. Ein Testat gremienpolitischer Machtarroganz. Die CDU hat kein Verfahren entwickelt, um sich mit der CSU auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen, sondern sich darauf verlassen, dass einmal mehr alles nach ihrer Nase läuft. Das Selbstverständnis im Konrad-Adenauer-Haus: Wir küren einen Parteichef, der erst Kanzlerkandidat, dann Kanzler wird, denn wir sind die große Schwester, wir haben das erste „Zugriffsrecht“ und wir sind die einzig verbliebene Volkspartei, kurz: Wir teilen uns erst einen Parteichef zu, dann dem Land einen Regierungschef – im Herbst schließlich uns, dem Chef und dem Land ein, zwei Koalitionspartner, denn ohne die geht es leider nicht.

Auch Armin Laschet war von dieser dynastischen Logik überzeugt. Er baute nach seinem Kür zum CDU-Chef auf sein politisches Erstgeborenenrecht in der Union und meinte, sein Aufstieg vom Kronprinz zum König von Deutschland sei partei-genea-logisch begründet. Söders Zugriff auf die Macht demaskiert einen Egoisten? Natürlich. Aber wahr ist eben auch: Laschets Egoismus ist noch dazu mit Naivität und Ignoranz angereichert.

Und mit einer Machtarroganz, die von der programmatischen Orientierungslosigkeit der CDU ablenken soll. Fast alle Präsidiums- und Vorstandsmitglieder haben in der vergangenen Woche ihr laues Votum für Laschet mit dem Wording verbunden, er könne „zusammenführen“. Das ist kein Zufall: Der Blick der Parteigranden richtet sich weniger auf das Land, seine Menschen, Bürger und Wähler, vielmehr auf die Partei und ihre Mitglieder.

Die CDU ist die normativ anspruchsloseste aller Parteien

Es geht der CDU in diesem Machtkampf nicht darum, den besten Kandidaten für einen erfolgreichen Bundestagswahlkampf zu küren, sondern darum, den innerparteilichen Erbfolgekrieg in der Post-Merkel-Ära zu befrieden. Genau dafür ist Laschet mutmaßlich der richtige Mann am richtigen Ort: Parteichef eben. Mit Blick auf die Wahl im September müsste die CDU dagegen so tun, als gehörten Laschet und Söder derselben Partei an. Doch dazu fehlt der CDU die Kraft, die Souveränität – ein starker Chef. Auch das zweite Argument der Laschet-Anhänger verfängt nicht: seine angebliche „Verlässlichkeit“. Laschet hat Merkels Irrlichterei in der Migrations- und Integrationskrise vor sechs Jahren als Schönredner vom Dienst begleitet – und sich in der Coronapolitik seinerseits als Irrlicht vom Dienst erwiesen, als Dauerproduzent von Unklarheiten, Widersprüchen und faulen Schuldzuweisungen: „Wir alle hatten die Hoffnung, dass wärmere Temperaturen zu einem Sinken der Fallzahlen führt“ – nur zum Beispiel.

Spätestens im Februar müssen die Christdemokraten gespürt haben: Hier läuft etwas gründlich schief, hier verschiebt sich etwas im Machtgefüge. Söder dekretierte damals: Wer bei der Bundestagswahl mit „Merkel-Stimmen“ gewinnen wolle, müsse wissen, dass das nur mit „Merkel-Politik“ gehe – und erlegte Laschet damit im Handstreich. Der hatte sich 48 Stunden zuvor beim Neujahrsempfang des Wirtschaftsrats in Baden-Württemberg mal wieder in Rage geredet – und warf einem nicht näher bestimmten Adressaten vor, man könne „nicht immer neue Grenzwerte erfinden“ und „die Bürger behandeln wir unmündige Kinder“ (nur um wenig später neue Grenzwerte und einen „Brückenlockdown“ zu erfinden).

Laschet schwächte damit erstens Merkel, die ihm in punkto Pandemiepolitik erkennbar überlegen ist: Die Kanzlerin rächte sich später an Laschet und sieht seiner Demontage in diesen Tagen aufreizend beiläufig zu. Zweitens delegitimierte der Ministerpräsident des größten Bundeslandes sich einmal mehr selbst, schließlich zählt er zu den Absendern, nicht Adressaten der Bund-Länder-Pandemiepolitik. Und drittens meinte Laschet sich anbiedern zu müssen bei dem, was er für „die Stimmung in der Wirtschaft“ hielt, wie unangenehm: Zielgruppenabhängiges Reden und politisches Catering für Partikularinteressen ist exakt das, was die Deutschen nicht von einem Kanzler erwarten.



Was aber erwarten die Deutschen von einem Kanzlerkandidaten der Union? Die Antwort ist einfach: nichts Bestimmtes. Die meisten Deutschen wählen die Schwesterparteien als inhaltsleere Mitte, als Stabilisator des Status quo – als politische Kräfte, die inmitten einer schnelldrehenden Welt dafür sorgen, dass sich so gut wie nichts ändert. Eben darin besteht das Erfolgsgeheimnis der CDU; es lässt sich in einem einzigen (Gegen-)Satz zusammenfassen: Viele Deutsche wissen ganz genau, warum sie Linke, Grüne, Sozialdemokraten, Liberale und Rechtspopulisten nicht wählen – und sie wissen überhaupt nicht, warum sie (stattdessen) die Union wählen.

Die CDU ist die normativ anspruchsloseste aller Parteien in diesem Land; sie stellt sich einfach mit zehn, 15 Jahren Verspätung, also immer gerade rechtzeitig, an die Spitze eines breitenwirksam gewordenen Zeitgeistes, dem andere als Avantgarde längst den Weg bereitet haben. Wenn das aber so ist, wenn die, nun ja: „programmatischen“ Ziele von CDU und CSU in ihrer Anspruchslosigkeit identisch und die inhaltlichen Differenzen von Laschet und Söder, wie alle in der Union versichern, marginal sind – welche Gründe gibt es dann noch für die Union, einem Kandidaten den Vorzug zu geben, der ihr womöglich den Sieg kosten könnte?

Natürlich, Demokratie ist nicht Demoskopie. Und eine Stimmungslage macht noch keinen Sommer. Aber eine Momentaufnahme ist der Siegeszug Söders durch die Umfragen auch nicht. Söder übermalt seit zwei Jahren erfolgreich den Markenkern der Schwesterparteien und bietet liberalkonservativen Wählern ein kleines, normatives Surplus, etwas leicht Bejahbares an: einen grünliberalen Konservativismus, der nicht den „linken Zeitgeist“ verabscheut, sondern aufnimmt, ihn sich anverwandelt, ihn produktiv umdeutet – eine Meisterleistung des Opportunismus. Da ist tatsächlich einer, der Gelegenheiten nutzt, den Zeitgeist ausbeutet, die Gegenwart virtuos bespielt – und der auf Gutsherrenart Gunst und Gnade zu gewähren versteht, wann immer es ihm, dem Hegemon, passt, ganz so wie weiland Helmut Kohl, der andere lobend hinzurichten verstand: Die Grünen, sagte Söder zuletzt, seien „charmant“ (also nicht kompetent und leider auch etwas unseriös) – und die FDP „immer der prioritäre Partner“ (also wenn es für die Liberalen zu fünf Prozent reicht und sie schön brav sind). So (breitbeinig) markiert man politisches Terrain!

Natürlich, Söder wandert auf ganz schmalem Grat. Es ist unvergessen, wie er sich vor drei Jahren an der Seite von Jens Spahn als hauptamtlicher Rechtsausleger der Union profilierte und mit neonational verzierten Signalwörtern („Asyltourismus“) versuchte, kleine Geländegewinne gegenüber der AfD zu erzielen – wie er die „kleinen Leute“ in Bayern mit blau-weißem Heimat-Chauvinismus bekümmerte und dabei natürlich nicht auf deftiges Abschiebungsgetöse verzichtete, weil der Islam zum Beispiel, so Söder, und erst recht die Scharia „kulturgeschichtlich“ nicht zu Bayern gehörten. Natürlich wollte das Söder damals nicht als Rechtsruck verstanden wissen, nein, lediglich als ein Zurück zur „alten Glaubwürdigkeit der CSU“, ganz „wie in den Zeiten von Franz Josef Strauß“. Glaubwürdigkeit? Strauß? Finde den Fehler.

Dennoch ist der Opportunist Söder nicht (nur) ein prinzipienloser, auf seinen Vorteil bedachter Einpasser, dessen Glätte und Geschmeidigkeit wir gewohnheitsmäßig verachten, sondern auch ein bewundernswerter Meister im Ergreifen günstiger Gelegenheiten: Söder, eine Kippfigur, die rückgratlose Wendigkeit und situative Klugheit zugleich repräsentiert. Ihm eignet etwas Mephistophelisches; er nimmt eine irritierende Position zwischen Seriosität und Verschlagenheit ein, und man sieht ihm mit einer gewissen Faszination dabei zu, wie er die Geschäftsordnung der CDU unterläuft, um sich (allein) die Kraft zuzusprechen, die Union zu restabilisieren – und das Land in eine produktive Unruhe zu versetzen: aus heimattreuer Erdverbundenheit und Liebe zum politischen Vagabundentum.

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Andererseits: Brauchen CDU und CSU wirklich einen, der sie zu beunruhigen und irritieren versteht? Es ist die Tragik und Komik der Union zugleich, dass sie trotz weitgehend verstümperter Coronapolitik, von Bereicherungsskandalen erschüttert, sowohl an der Spitze als auch an der Basis zutiefst entzweit, in Meinungsumfragen noch immer knapp 30 Prozent erzielt: für alles, was sie politisch nicht erreichen will – ganz gleich mit wem.

Mehr zum Thema: Der ehemalige Chef der Wirtschaftsweisen Lars Feld über zweifelhafte CDU-Industriepolitik, ein deutsches Tesla-Syndrom und das trügerische Ende der Schuldenbremse – sowie seine Meinung zur Rückkehr von Friedrich Merz.

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