Tauchsieder
Quelle: Illustration: WirtschaftsWoche

Neustart – oder Kollaps?

Nach dem Rücktritt von Habecks Staatssekretär Patrick Graichen: Fasst die Ampel klimapolitisch Tritt? Schafft es die Union raus aus dem Sandkasten? Und will das Land die grüne Transformation noch gestalten? Eine Kolumne.

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So, kann es jetzt endlich weitergehen? Patrick Graichen, der Staatssekretär der „grünen Transformation“, der seinem Trauzeugen einen lukrativen, einflussreichen, politisch eng verwandten Job verschaffte, ist zurückgetreten. Und Michael Schäfer, der vom Staatssekretär Berufene, tritt diesen Job nicht an, verzichtet auf eine Abfindung. Alles wieder gut also? Fehler geheilt? Zurück auf Los? Von wegen. Die Grünen stehen vor den Ruinen ihres politischen Klientelismus, ihrer Hybris, Ignoranz und Wählerverachtung. Der Ampel droht der Kollaps. Der Wärmewende das Aus. Und dem Land das Ende aller Chancen, seine Klimaschutzziele im demokratischen Konsens zu erreichen – den heiklen Übergang in die postfossile Ära aus einer Position der wirtschaftlichen Stärke heraus zu gestalten.

Die Operation am offenen Herzen des Standorts Deutschland geht gerade schief. Wegen handwerklicher Fehler des Wirtschaftsministers und der regierenden Vorschriftslust der Grünen. Wegen eines Bundeskanzlers, der Angela Merkels legendäre Teilnahmslosigkeit noch einmal toppt, der unbedingte Ambitionsarmut verkörpert und mit jeder Wortmeldung den Eindruck erweckt, den Deutschen ein kleines Stückchen mehr ihren Veränderungswillen abtrainieren zu wollen. Wegen einer geradezu trumpesken Denunziationsfreude der Union. Und wegen der blanken Zukunftsverweigerung der Lindner-Liberalen im Namen illusorischer Übermorgenziele und Nischentechnologien. Wir haben uns in einen mentalen Lockdown hinein manövriert. Wir sind, so sagt es Allensbach-Demoskopin Renate Köcher: „Lost in Transformation“.

Fangen wir an mit einer Bestandsaufnahme, einer kleinen Erinnerung in drei Schritten. Erstens: Deutschland hat im Oktober 2016 das Klimaabkommen von Paris ratifiziert. Wir haben uns darin verpflichtet, unseren (kleinen) Teil zur Begrenzung der Erderwärmung beizutragen („deutlich unter“ zwei Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter) und der Welt regelmäßig unsere „Ambitionen“ nachzuweisen.

Habecks Staatssekretär Graichen war nicht mehr haltbar. Seine Entlassung ist der Versuch, die Energie- und Klimapolitik der Grünen zu schützen. Doch die Konflikte darum dürften jetzt noch schärfer werden. Ein Kommentar.
von Max Haerder

Zweitens: Das Bundesverfassungsgericht hat Deutschland im April 2021 zum Zwecke des Freiheitsschutzes künftiger Generationen aufgefordert, „Jahresemissionsmengen und Reduktionsmaßgaben so differenziert (festzulegen), dass eine hinreichend konkrete Orientierung entsteht“ – also der Bundesregierung das Bestimmen und Verfolgen von Sektorzielen auferlegt oder aber, was auf dasselbe hinausliefe, recht steil steigende CO2-Preise in den Sektoren Industrie, Kraftwerke, Verkehr und Gebäude verordnet.

Drittens: Die (schwarz-rote) Bundesregierung hat im August 2021 ein „Klimaschutzgesetz“ verabschiedet, in dem sich das Land darauf verpflichtet, die Emission von Treibhausgasen bis 2030 um 65 Prozent gegenüber 1990 zu senken – und ab 2045 mindestens „klimaneutral“ zu wirtschaften.

Sind sich die demokratischen Parteien im Bundestag, was ihre Bemühungen zur Erreichung der Ziele anbelangt, noch immer so weit, so einig? Nein. Nicht im Entferntesten. Auch wenn noch niemand den Mut hat, es offen auszusprechen.

Stattdessen deutet man permanent an, dass es in Sachen Klimaschutz auf Deutschland allein oder auch ein paar Jahre mehr oder weniger nicht ankomme (Friedrich Merz, Jens Spahn); man verbreitet wiederholt Verlustängste, um sich den Deutschen umso nachdrücklicher als hauptamtlicher Opferbetreuer im Sinne einer „Gesamtverantwortung“ empfehlen zu können (Lars Klingbeil, Kevin Kühnert); man malt wegen ein paar „Klimaklebern“, die da und dort den Verkehr lahmlegen, andauernd Terrorrisiken und Bürgerkriegszustände an die Wand (Alexander Dobrindt, Marco Buschmann) – bis zuletzt alle Regierungspolitiker und Bürger, die noch an ambitionierten Zielen festhalten, als Vertreter eines Partikularinteresses, als randständige Lobbyisten und „Klimaaktivisten“ (Julia Klöckner) markiert, nein: denunziert sind.

Tatsächlich meinen es nur noch die Grünen, ihre zahlreichen Vorfeld- und Nachhutorganisationen und Stammwähler wirklich ernst mit den drei Vorgaben. Was die meisten Deutschen ihnen inzwischen gründlich verübeln. Und was die Volkstribunen der vier übrigen demokratischen Parteien im Bundestag (SPD, Union, FDP) – zugleich Pulsfühler und Stresstreiber der Bürger, Echo und Verstärker eines anschwellenden Nationalzorns, Thermometer und Tauchsieder der aufkochenden Volksseele – nun schon seit Wochen entschieden nutzen, um auf Kosten der Grünen demoskopische Augenblickserfolge zu feiern: zum langfristigen Schaden des Berliner Politikbetriebs, aber auch der „demokratischen Kultur“ des Landes und seiner wirtschaftspolitischen Erfolgschancen.

Die drei entscheidenden Fragen nach dem Rücktritt von Robert Habecks Staatssekretär Patrick Graichen lauten daher: Findet die Ampel-Koalition noch einmal „zurück zu den Sachen“, also zu einer seriösen Wirtschafts- und Klimapolitik– und „zurück zu den Menschen“, an denen vorbei halt auch die Grünen nicht durchregieren können? Schaffen es die politischen Kleinkinder von Union und FDP wieder raus aus dem Sandkasten, um mit Gelingensfreude und Zuversicht einen Ideenwettbewerb zu befeuern, den das Land für seinen energiepolitischen „Sturz nach vorn“ dringend braucht? Und: Wollen wir im Interesse des Landes und unserer Nachkommen auch in einer karbonfreien Welt an der Innovationsspitze stehen – oder nicht?

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