Tauchsieder

Nur Verkehrsknoten im Kopf – und maximaler Ideenleerstand im Häuserkampf

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Wen um Gottes willen soll man in dieser Stadt wählen?

Genug. In Deutschland wurden 2021 gut 290.000 Wohnungen gebaut, 2022 rund 280.000. Die Bundesregierung hat versprochen, dafür zu sorgen, dass es jährlich 400.000 werden, um etwas Preisdruck aus dem Markt zu nehmen. Sie wird ihr Ziel auch 2023 grandios verfehlen. Die Baupreise gehen steil (plus 16,4 Prozent in 2022) – und die steigenden Zinsen schrumpfen einen demografisch schrumpfenden Pool an Menschen, die sich noch für ihre eigenen vier Wände verschulden wollen oder können. Wenn Marktführer Vonovia jetzt zu Protokoll gibt, es müsse bei Neubauprojekten inzwischen beinahe 20 statt bisher zwölf Euro Miete pro Quadratmeter aufrufen, dann ist das (auch abzüglich aller lobbyistischer Interessen) ein Alarmzeichen: Nur weil vor allem die FDP seit Jahren auf eine Ausweitung des Angebots drängt, ist das Argument nicht gleich falsch.

Rot-Grün-Rot hat die Randzonen des Tempelhofer Flugfelds nicht bebauen wollen, nur zum Beispiel. Rot-Grün-Rot hat aber auch nie ein Interesse daran gezeigt, in der „Mieterstadt“ Berlin die Eigentumsbildung zu fördern; die Mieten waren immer ja so schön billig. Dass sich sehr viele Menschen rund 100 Quadratmeter Altbau in ausgezeichneter Lage vor rund 15 Jahren noch für 200.000 Euro hätten kreditfinanzieren können, wenn sie nur bereit gewesen wären, vier, fünf Jahre mal nicht in Urlaub zu fahren – vergessen. Jetzt hat sich das Wohnen stark verteuert. Jetzt werden nicht mehr 15 Prozent des Nettoeinkommens für die Miete aufgewendet, sondern 35. Jetzt ist die Chance einer robusten, reservestarken Eigentümergesellschaft dahin. Jetzt fühlen sich reservenlose Mieter anspruchsberechtigt, an den Rand gedrängt, ausgenommen. Jetzt klafft die Wohlstandslücke zwischen Eigentümern und Mietern (und erst recht ihren Erben) immer größer auf – mit der Folge, dass der Kreis von Anspruchsberechtigten sich vergrößert, der Sozialstaat sich gleichsam selbst nährt: Die Zeit wird kommen, dass nicht nur Steuerzahler, sondern auch Eigentümer ihren „fairen“ Anteil am „sozialen Ausgleich“ leisten sollen.

Was statt dessen zu tun wäre? Maximale Angebotsausweitung, um die Preise zu senken. Die Bildung von Wohneigentum fördern (wo immer es noch geht). Sozialleistungen nicht streuen, sondern konzentrieren, etwa über ein gestaffeltes, am Mietspiegel angelehntes Wohngeld. Der Industrie das modulare, preiswerte Bauen schmackhaft machen. 20, 30 Prozent Sozialwohnungsquote bei Neubauten vorschreiben. Und natürlich attraktive Quartiere in Innenstädten nicht meistbietend verkaufen, sondern dem sozialen Wohnungsbau erschließen.

Die Verkehrspolitik ist ähnlich düster wie der Wohnungsbau

Fast noch düsterer fällt die Bilanz der sogenannten „bürgerlichen“ Parteien im Bereich der Verkehrspolitik aus: Sie konservieren noch immer die Autostadt der 1970er-Jahre, protegieren ein Bürgerrecht auf Stauzeiten - und halten es für gottgegeben, dass stehendes Blech auf vier Rädern die Asphaltbänder zwischen zwei Häuserreihen verunziert und die Wohnquartiere vermüllt. Sie halten es für einen Beitrag zum Klimaschutz, wenn sie den kinetischen Kollaps auf Einfallstraßen mit dem Bau neuer Einfallstraßen auflösen (FDP-Fraktionschef Christian Dürr) und wollen noch anno 2023 Autobahntrassen ins Herz von Stadtteilen treiben, sie empfinden einen Stau nur dann als störend, wenn ein „Klimakleber“ ihn verursacht – und sie finden es wahnsinnig lustig, ihre Wählerschaft mit Desinformation gegen „grüne Bevormunder“ mobilisieren zu können: „Berlin, lass Dir das Auto nicht verbieten“, plakatiert die CDU in Berlin, obwohl kein Mensch auch nur ein einziges Auto verbieten will. Es ist so erbärmlich.

Und sprechend zugleich. Denn CDU und FDP wollen (nicht nur in Berlin) vor allem, dass sich verkehrspolitisch möglichst nichts ändert, dass alles so bleibt, wie es ist: dass möglichst viele Autos morgens kostenlos in die Stadt kommen und abends kostenlos heraus, dass sie in „zweiter Reihe“ folgenlos parken und Fahrradwege versperren und die Ecken in den Wohnquartieren zustellen - damit die Kinder auf dem Schulweg möglichst spät bemerken, dass ein Auto auf sie zurollt, mit Tempo 50 versteht sich, weil mit Tempo 30 kommen wir nicht weit, hahaha.

Tatsächlich sind die Grünen die einzigen (der größeren Parteien) in Berlin, die den Autolobbyisten nicht nach dem Mund reden, die raus wollen aus den städtebaulichen Denkmustern des 20. Jahrhunderts, die sich Gedanken darüber machen, wie eine lebenswerte Stadt der Zukunft aussehen könnte – alle übrigen, allen voran Giffeys SPD, genießen es, sie dabei scheitern zu sehen: etwa mit der fragwürdigen Stilllegung des Autoverkehrs in der ohnehin viel zu spärlich frequentierten Friedrichstraße.

Es gibt so viele Ideen für bessere Mobilität!

Es ist wirklich zum Verzweifeln – weil es gerade die Mikro-Mobilitätswende in Großstädten an einem Ideenwettbewerb gebricht, an einem lösungsorientierten Konkurrenzdenken im Interesse einer Integration aller Verkehrsträger.

Wollen wir nachhaltige Mobilität voranbringen, müssen sich Zielsetzungen und Organisationen des Verkehrsministeriums und der städtischen Behörden ändern. Nur dann haben grüne Lösungen eine Chance. Ein Gastbeitrag.

Andreas Herrmann, Professor für Mobilität in St. Gallen und Uwe Schneidewind, Bürgermeister in Wuppertal, haben in einem feinen Essay für die WirtschaftsWoche gerade skizziert, worum es etwa ginge: Öffentlichen Platz fair bepreisen; die Gebühren für Parkplätze entsprechend den Opportunitätskosten berechnen… Aufgeständerte Radschnellwege fördern… Verkehrssysteme vernetzen… Stadtrandzonen für Car-Sharing-Anbieter erschließen… Zweirad-Schnellstraßen bauen… Lieferverkehre mit Stadtteil-Hubs minimieren… Modellstädte fördern, die mit einer „Can-Do“-Mentalität um Konzepte wetteifern, weit abseits eines Kulturkampfes Auto versus Fahrrad.

Das Problem ist: CDU und FDP zeigen daran nicht das geringste Interesse. Sie protegieren in geradezu obszöner Weise das obszön bevorrechtigte Auto – um den Grünen die Bevorzugung des noch immer krass unterförderten Fahrrads anzukreiden.

Und so kommt seit Jahrzehnten viel zu wenig voran in Berlin. Renate Künast hat 2011 ihren Wahlkampf verloren, weil sie Tempo 30 auf den Hauptstraßen der Stadt durchsetzen wollte. Schön und gut. Aber warum hat Rot-Grün-Rot es in den zwölf Jahren darauf nicht geschafft, Tempo 30 abseits aller Hauptstraßen durchzusetzen? Es hätte der Stadt Tote, Verletze (und CO2-Tonnen) erspart. Warum protegieren CDU und FDP nicht alle möglichen „Kiezblocks“, die für den Durchgangsverkehr gesperrt sind? Und was bitteschön spricht gegen die Bepreisung von Parkraum – und den Versuch der Grünen, die Zahl der Parkplätze in der Stadt zu halbieren, um die Flächen anders zu nutzen?

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Die „bürgerlichen“ Pubertiere trotzen bei diesen Fragen nur und suchen „ihr“ Stamm(tisch-)Publikum mit der Pflege von Vorurteilen gegen die „Verbotspartei“ zu gewinnen, aber etwas Substanzielle zum Thema beizutragen – das haben sie nicht. „Ich will mehr Mobilität mit weniger Autos“, sagt Jarasch. „Das ist de facto ein Verbot“ sagt Wegner. Ende der Debatte. Noch Fragen?

Vielleicht diese noch: Wen um Gottes willen soll man in dieser Stadt wählen?

Lesen Sie auch: Die sechs Todsünden des Mietmarkts

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