Besetzung und Versorgung ukrainischer Atomkraftwerke Diese Risiken können die Sicherheit der ukrainischen AKW gefährden

Der Sarkophag über dem Unglückreaktor Nummer vier: Im stillgelegten AKW Tschernobyl arbeiten aktuell rund 210 Fachkräfte ununterbrochen. Die Russen lassen die Teams nicht rotieren und nicht ausreichend pausieren. Quelle: REUTERS

Was hat Russland mit besetzten ukrainischen Atomkraftwerken vor? Die weitere Sicherheit der Reaktoren hängt entscheidend davon ab, dass die Militärs keine Fehler machen – und die externe Versorgung standhält.

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Seit Tagen belagern russische Truppen das größte Atomkraftwerk Europas – Saporischschja – und das AKW, das für das größte Reaktorunglück des Kontinents steht: Tschernobyl. Auf der stillgelegten Anlage arbeiten rund 210 Fachkräfte ununterbrochen. Die Russen lassen die Teams nicht rotieren und nicht ausreichend pausieren. Am Mittwoch dann teilte die Ukraine mit, eine Stromleitung zwischen Kiew und Tschernobyl sei gekappt worden. Es drohe ein Austritt radioaktiver Strahlung, wenn die Energiezufuhr für die Kühlung alter Brennstäbe und anderem radioaktiven Material nicht schnell wieder hergestellt werde. Denn die Notversorgung über Dieselgeneratoren reiche nur für zwei Tage. Bis diesen Freitag, 11 Uhr.

Und dann?

„Von Tag zu Tag sehen wir eine sich verschlechternde Situation am AKW Tschernobyl, vor allem für die Strahlungssicherheit und für die Belegschaft, die die Anlage unter extrem schwierigen und herausfordernden Umständen steuert“, sagte Mariano Grossi, Chef der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), am Mittwochabend. Aktuelle Sorgen bereiteten ihm der Abbruch der automatischen Datenübertragung aus den AKW an die IAEA. Doch eine akute Bedrohung scheint weder von Saporischschja noch von Tschernobyl auszugehen.

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Astrid Sahm, Osteuropa-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), sagt im Gespräch mit der WirtschaftsWoche, die Gefahr „einer größeren Katastrophe“ sei gering. Die Reaktoren sind seit längerem abgeschaltet und die Brennstäbe gekühlt. Probleme mit der Kühlung im Brennstoffbehälter würden daher, so Sahm, „wohl nur lokale Probleme verursachen. Wesentlich größer ist das Risiko bei den laufenden Reaktoren wie Saporischschja.“

Die Nachrichten aus und über Tschernobyl, die dem Betrachter atomare Horrorszenarien vergangener Zeiten in Erinnerung ruft, benutzten beide Seiten für taktische Zwecke: „Die russische Seite möchte die ukrainische Bevölkerung durch die Angst vor einer nuklearen Katastrophe einschüchtern und demoralisieren.“ Die Ukrainer hätten ihrerseits „ein Interesse, die Situation zu dramatisieren, um mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung im Westen für ihre Anliegen zu erhalten“.

Das zeigt auch der Fall Saporischschja: Vor sechs Tagen nahmen russische Soldaten das größte Atomkraftwerk Europas im Südosten der Ukraine ein. Rund um das Gelände war es nach ukrainischen Angaben zu heftigen Gefechten gekommen. Russland habe außerdem das AKW gezielt beschossen. Präsident Wolodomyr Selenskyj informierte die Anführer der USA, Großbritanniens, der EU und der IAEA über die ernste Gefahr einer nuklearen Katastrophe, wie er sagte: „Lassen Sie nicht den Tod Europas durch eine Katastrophe in einem Kernkraftwerk zu.“ Das russische Verteidigungsministerium sah den Vorfall ganz anders und machte für den Angriff auf das AKW „ukrainische Saboteure“ verantwortlich.

Sahm sagt, man könne ausschließen, dass der Beschuss inszeniert worden sei. Sie gehe aber nicht davon aus, dass Russland eine Nuklearkatastrophe riskieren würde. Die Reaktoren seien „recht gut geschützt“, ein Beschuss führe „nicht so leicht“ zu einem Super-GAU. Nach Angaben von Experten sollen die Schutzmäntel der Reaktoren, die sogenannten „Containments“ mindestens den Einschlag eines Flugkörpers von zehn Tonnen Masse und bis zu 750 km/h Geschwindigkeit widerstehen.

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Sicher ist: Das AKW ist nun offiziell in russischer Hand, aber unversehrt, die Strahlenmessungen haben keine Auffälligkeiten ergeben. Das Fachpersonal arbeitet weiter.

Gleichwohl kann die Instrumentalisierung dieser Vorfälle nicht darüber hinwegtäuschen, dass von den Kraftwerken in Kriegszeiten durchaus eine Gefahr ausgeht – selbst wenn es zu keinem direkten Beschuss der Anlagen kommt. Sahm sagt: Die Grundvoraussetzung und noch „das Einfachste ist, die Mitarbeitenden weitermachen zu lassen, damit es nicht zu Sicherheitsrisiken durch unqualifizierte Bedienung kommt“. Eine komplette Übernahme der Anlage durch die Russen hält die SWP-Forscherin deswegen für „Wahnsinn“, denn selbst im stillgelegten Tschernobyl brauche es Spezialisten. Die Beschäftigten eines AKW sind speziell für dieses ausgebildet. Egal, ob ukrainisch oder russisch – Ingenieure, die nicht mit dem Werk vertraut sind, können es nicht ohne umfangreiche Einführung übernehmen.

Doch selbst wenn diese Bedingung erfüllt sei, gebe es „genügend Gefahren“, warnt die Forscherin. Ein Risiko geht dabei nach Ansicht von Reaktorsicherheitsfachleuten ausgerechnet von der Bedienungsmannschaft selbst aus. Wenn – wie in Tschernobyl – tagelang das gleiche Team unterunterbrochen arbeite, mahnt ein deutscher Experte, sei „nicht auszuschließen, dass die Leute übermüdet sind und Fehler machen“. Hinzu komme, dass Teile der Austauschteams gar nicht mehr verfügbar seien. „Wir wissen, dass sich manche von denen inzwischen dem ukrainischen Widerstand angeschlossen haben.“ Das erhöhe den Druck auf die Verbliebenen noch zusätzlich und damit das Risiko von Bedienungsfehlern in der Anlage.

Die Sicherheit der Fachkräfte sichert die Sicherheit der AKW

Um sicherzustellen, dass keine atomaren Unglücke passieren, sind zwei Faktoren entscheidend – und mit mehreren Unwägbarkeiten behaftet: militärische Genauigkeit und die Versorgung der AKW und deren Mitarbeiter.

Die Gefahr eines Querschlägers steige, je länger der Krieg dauere, sagte der Militärexperte Franz-Stefan Gady Anfang März im „Deutschlandfunk“. Anders als westliche Armeen verfügten sowohl die Ukraine als auch Russland über weniger Präzisionsmunition. Schwinde die Anzahl des zielsicheren Waffenmaterials, müssten „herkömmliche Bomben und Systeme“ herhalten. Flächendeckende Bombardements hätten größere Kollateralschäden für die Zivilbevölkerung zur Folge – bergen in der Nähe von AKW aber eben auch eine große Gefahr für die Sicherheit dieser Anlagen. Neben einer Ungenauigkeit der Technik kann zudem die von Soldaten verheerend sein, sprich: menschliche Fehler.

Genauso wie die Präzision, sagt Wissenschaftlerin Sahm, betreffe auch die Versorgungssicherheit Technik und Mensch: Die Mitarbeiter lebten ja nicht dauerhaft in der geschützten Umgebung des AKW, sondern „wohnen in nahe liegenden Städten. Die können nicht permanent in der Anlage bleiben.“ Wenn die Wohnorte jedoch bombardiert würden, seien auch die AKW-Fachkräfte in Lebensgefahr.

Elementar für die AKW ist neben der fachlichen Expertise, dass der Strom für die Kühlung des radioaktiven Materials fließt und im Notfall ausreichend Dieselkraftstoff für das Notstromsystem vorhanden ist. Aus militärischer Sicht ist die Infrastruktur des Gegners jedoch ein logisches Ziel, um ihn zu schwächen. In Ansätzen hätten die Russen längst auf diese Taktik zurückgegriffen, sagt Sahm, die zu Energie- und Infrastrukturthemen in beiden Staaten forscht. „Wir haben bereits gesehen, wie Pipelines angegriffen wurden und brennen.“ Externe Faktoren könnten die Kraftwerke also im äußersten Fall in eine brenzlige Lage bringen.

Bis es aber zum Äußersten käme, müsste viel passieren. Viel Konjunktiv. Für IAEA-Chef Rafael Grossi sind es zu viele „Wenns“, wie eine Szene aus einer Pressekonferenz vergangene Woche zeigt: Als eine Journalistin eine Parallele zur Reaktorkatastrophe von Fukushima vor elf Jahren zieht, bei der ein Tsunami die Stromversorgung kappte, daraufhin die Kühlung der Brennstäbe aussetzte und das lebensgefährliche Material freigesetzt wurde, reagiert Grossi auskunftsfreudig. Schön, dass sie das anspreche, die Erlebnisse von Fukushima hätten zu technischen Aufrüstungen geführt, die eine Wiederholung eines solchen Unfalls unmöglich machten. Und wenn die Stromzufuhr wider Erwarten doch aussetze, sagt der Behördenleiter, könne sich das Kraftwerk „sieben bis zehn Tage“ autark versorgen.

Und dann?, hakt die Journalistin nach. Eine so theoretische Diskussion wolle er nun wirklich nicht führen, wiegelt der Argentinier nun ab. „Wir haben viel Zeit, das zu regeln. Die hatten wir in Fukushima nicht.“ Davon abgesehen sei er „überzeugt, dass nichts Derartiges passieren wird“.

„Die Vorräte reichen nicht ewig“

Sahm hat diese Reaktion von Grossi nicht überrascht. Klar sei das ein nicht wahrscheinliches Worst-Case-Szenario. Sie wolle „gar keine Panik machen. Aber man kann es umgekehrt auch nicht ausschließen.“ Sie gehe von einem Krieg aus, „der nicht schnell vorbei sein wird. Die Vorräte reichen nicht ewig.“

Auch Grossi gab zu, die Situation sei „einzigartig“. Nach dem Vorfall am AKW Saporischschja sagte er, er wolle sich persönlich vor Ort ein Bild über den Zustand machen. „Ich bin bereit zu kommen“, sagte der IAEA-Chef und bot sich als Vermittler an. Täglich gibt die Behörde Updates heraus, betont, auch mit der russischen Seite in Kontakt zu sein. Man befinde sich schließlich in einem andauernden militärischen Konflikt in einem Land mit einem sehr hohen Anteil radioaktiven Materials.



Die vier Kernkraftwerke produzieren insgesamt mehr als die Hälfte des ukrainischen Stroms. „Von den 15 Reaktoren sind zwölf sowjetischer Bauart und drei Ende der 90er- und in den Nullerjahren entstanden. Es wurden aber alle mit westlicher Technik modernisiert“, sagt Sahm. Die Sicherheitsupdates kosteten laut dem aktuellen Nuclear Power Report 1,45 Milliarden Euro. Fast die Hälfte davon bezahlten demnach die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie die Europäische Atomgemeinschaft.

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Die Ukraine exportiert Energie in mehrere Nachbarländer, importierte bis zuletzt aber auch aus Russland und Belarus. Die Laufzeit der Meiler wurde von 30 auf 40, bei manchen sogar auf 50 Jahre erweitert. Das hat laut Sahm einen einfachen Grund: Es fehlten die Mittel für Endlagerung und Alternativen. „Das Land kann es sich nicht leisten stillzulegen.“ Leichter wäre es da, wie Belarus ein neues AKW zu bauen. „Dann hätten sie nur die Investitionskosten.“ Die Diversifizierung der Energiequellen wäre erneut vertagt.

Den jetzigen Atomstrom-Anteil am Energiemix will Kiew bis 2035 konstant halten. Neben den sechs Reaktorblöcken in der Nähe von Saporischschja stehen sechs weitere an zwei Standorten im Westen, noch fernab russischer Armeekolonnen. Das AKW Juschnokrajinsk mit drei Blöcken liegt rund 100 Kilometer nordöstlich von der wichtigsten ukrainischen Hafenstadt, Odessa.

Noch sind die Anlagen im Westen und Süden nicht eingenommen. Doch Expertin Sahm hält für denkbar, dass der russische Präsident Wladimir Putin bewusst „alle AKW in der Ukraine besetzen möchte, um dann die Stromversorgung weitgehend lahmzulegen und eine Kapitulation auf diesem Weg zu erzwingen“.

Mitarbeit: Thomas Kuhn

Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 4. März. Wir haben ihn aktualisiert.

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