EU-Westbalkangipfel „Die EU muss endlich Tacheles mit dem Westbalkan sprechen“

Westbalkangipfel in Tirana Quelle: AP

Nur mit dem Westbalkan könne Europa „komplett sein“, sagt Olaf Scholz gern. Doch der EU-Beitritt der sechs Staaten ist weiterhin in großer Ferne – trotz des Gipfels in Tirana. Und trotz des Einflusses von China und Russland in der Region.

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Olaf Scholz reiste am Dienstagmorgen nach Tirana, zum EU-Westbalkangipfel. Seit seinem Amtsantritt macht sich der Bundeskanzler für die Aufnahme der Westbalkanstaaten in die EU stark. Mit Montenegro (seit 2012) und Serbien (2014) führt Brüssel bereits Beitrittsverhandlungen. Albanien und Nordmazedonien genießen Kandidatenstatus. Bosnien und Herzegowina sowie der Kosovo sind mögliche nächste Beitrittskandidaten. Hoffnungen auf eine EU-Mitgliedschaft werden diesen Ländern seit Jahrzehnten gemacht. Gelingt nach langer Stagnation der politische Durchbruch? Antworten des Brüsseler Osteuropaexperten Dušan Reljić von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

WiWo: Herr Reljić, die Westbalkanstaaten warten seit vielen Jahren auf ihren EU-Beitritt. Warum dauert das so lange?
Dušan Reljić: Im kommenden Frühjahr werden es sogar genau zwei Jahrzehnte sein. Aus heutiger Sicht muss man feststellen: Beide Seiten haben nicht vorhergesehen, wie komplex und kompliziert das Verhältnis, der gesamte Beitrittsprozess sich entwickeln würde. Der politische Wille war durchaus vorhanden, aber er war nie stark genug, um die Hürden zu überwinden.

Welche Hürden meinen Sie?
Vor allem ökonomische. Die Westbalkanländer haben im Zuge der Annäherung ihre Märkte gegenüber der EU fast komplett geöffnet. Der weitaus größte Handel findet heute mit dem Binnenmarkt statt. In der Folge wuchs allerdings das Handelsdefizit – zuletzt auf rund 100 Milliarden Euro innerhalb eines Jahrzehnts. Einerseits drückt das aufs eigene Wachstum. Andererseits bekommt der Westbalkan keinerlei Kompensation durch EU-Fonds, anders als wirtschaftlich schwächere Mitglieder der Union. 

Das Resultat ist eine Art Teufelskreis der Stagnation?
Der dazu führt, dass massenhaft Menschen auswandern, und die Lage noch verschlimmern, ja. Vor der Pandemie hat im Schnitt alle zwei Minuten ein Bürger des Westbalkans seine Heimat gen EU verlassen. Alle zwei Minuten. Industrieansiedlungen in der Region wiederum werden mit üppigen Subventionen teuer bezahlt. Geld, das dann wieder anderswo fehlt.

In anderen Ländern führte der EU-Beitrittsprozess zu Dynamik und Wohlstand. Warum läuft das auf dem Westbalkan anders?
Nun, mit mehr Wachstum wäre die politische Stabilisierung einfacher gewesen. Doch die Mittelschicht in den Ländern wird immer kleiner – und ohne Mittelschicht wird es schwierig, eine funktionierende Demokratie zu schaffen. Kurzum: Die EU wollte Konvergenz, aber sie hat Divergenz geschaffen. Und sie hat früher bei anderen Kandidaten auch nicht ganz so streng hingeschaut.

Wird der Gipfel in Tirana eine Wendemarke?
Da wäre ich sehr skeptisch. Es gab schon zu viele dieser Treffen, ohne dass es nennenswerte Fortschritte gegeben hätte. Die EU ist mit sich beschäftigt, mit dem Krieg, dem Energieschock, dem Handelskonflikt mit den USA. Wirtschaftlich wie geopolitisch ist der Westbalkan einfach nicht wichtig genug. Das ist die nüchterne Wahrheit.

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Olaf Scholz macht sich allerdings stark für einen zügigen Beitritt. Sind das dann Lippenbekenntnisse eines neuen Kanzlers?
Nein, das würde seinem Bemühen Unrecht tun. Aber für ernsthafte Fortschritte müsste man die ganze Idee des Beitrittsprozesses umkehren: erst aufnehmen und dann mit viel Förderung auf gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt hoffen. Das wird nicht passieren. Zumal die EU zuallererst sich selbst reformieren wollte, also häufiger mit Mehrheit entscheiden. All das ist noch in weiter Ferne.



Seit diesem Jahr gibt es jedoch eine neue geopolitische Sensibilität. Die Rohstoffabhängigkeit des Westbalkan von Russland ist plötzlich ein Thema, der Einfluss Chinas in der Region. Führt das zu mehr Aufmerksamkeit Europas in seinem Hinterhof?
Der Westbalkan ist eher der weiche Bauch Europas. Und überhaupt: Der Einfluss Russlands und Chinas wird vollkommen überschätzt. Beide Länder spielen im Gegensatz zur EU und politisch zur USA eine untergeordnete Rolle. Wirtschaftlich, aber besonders auch, was die gesellschaftlichen Netzwerke angeht. Wo immer China aktiv ist, muss man einfach festhalten: Das sind Chancen, die westliche Firmen nicht genutzt haben. Das eigentliche Problem liegt anderswo.

Nämlich?
In der politischen Ansprache. Die EU muss Tacheles in den Hauptstädten des Westbalkans reden, besonders in Belgrad. Die demokratischen und rechtlichen Zustände in den meisten dieser Länder – außer mit Abstrichen Nordmazedoniens – sind schlecht. Wir sprechen hier über mindestens teil-autokratische Regime, die selbst zu wenig Interesse an fortschrittlichen Verhältnissen haben.

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Das heißt, der Westbalkan muss nochmal zwanzig Jahre warten?
Wissen Sie, schon 2012 habe ich eine Analyse geschrieben. Ihr Titel lautete: Zehn Jahre Einsamkeit. Das war ein Irrtum. Ich hätte schreiben müssen: Einsamkeit, die nie enden will.

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