Seine Stimme ist rau und noch immer voller Leidenschaft. Vor drei Jahren hat sich Daniel Cohn-Bendit aus der Politik zurückgezogen, aber wenn der 71-Jährige über europäische Missverständnisse redet, dann kommt er in Fahrt. „Es heißt immer, Europa sei bürokratisch“, sagt Cohn-Bendit, dabei gehe es in der Frankfurter Kommunalpolitik zuweilen viel bürokratischer zu: Als er dort aktiv gewesen sei, „wurde über die Größe der Tische debattiert, die Cafés auf die Bürgersteige stellen dürfen“.
Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Cohn-Bendit in Deutschland und Frankreich Politik gemacht, erst als Studentenführer, dann als Stadtdezernent und Europaabgeordneter für die Grünen. Er weiß, wie viel Ignoranz es auf beiden Seiten des Rheins gibt, wie viel Unwissen über die Europäische Union (EU) verbreitet ist. Und er beobachtet, wie allein die Klischees über regulierungswütige Institutionen in Brüssel die Europäer zu einen vermögen.
Doch was den 500 Millionen EU-Bürgern vor allem fehlt, ist ein gemeinsamer Diskurs über die Perspektiven der Union. Debatten zur Fortentwicklung der Gemeinschaft finden auch 60 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge nicht im Esperanto einer geteilten Öffentlichkeit statt, sondern in den nationalen Idiomen der Mitgliedstaaten. Allen Städtepartnerschaften, Schüleraustauschprogrammen und anderen Formen organisierter Völkerverständigung zum Trotz wissen Europäer erstaunlich wenig voneinander. Eine europäische Öffentlichkeit – es gibt sie nicht.
Frankreichs Präsident - das mächtigste Staatsoberhaupt
Von allen Staatsoberhäuptern der Europäischen Union hat der französische Präsident die größten Vollmachten. Seine starke Stellung verdankt er der Verfassung der 1958 gegründeten Fünften Republik, ihr erster Präsident war General Charles de Gaulle.
Der Staatschef wird seit 1965 direkt vom Volk gewählt und kann beliebig oft wiedergewählt werden. Seit 2002 beträgt seine Amtszeit noch fünf statt sieben Jahre.
Der Präsident verkündet die Gesetze, kann den Premierminister entlassen und die Nationalversammlung auflösen. In Krisenzeiten kann er den Notstandsartikel 16 anwenden, der ihm nahezu uneingeschränkte Vollmachten gibt.
Der Staatschef ist gegenüber dem Parlament nicht verantwortlich. Durch eine 2007 beschlossene Verfassungsänderung sind Staatschefs im Amt vor Strafverfolgung ausdrücklich geschützt. Das Parlament kann den Präsidenten nur bei schweren Verfehlungen mit Zweidrittelmehrheit absetzen.
Frankreichs Staatschef ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und hat in der Verteidigungs- und Außenpolitik das Sagen. Seine stärksten Druckmittel sind der rote Knopf zum Einsatz von Atomwaffen und das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat.
Der Präsident ernennt den Premierminister und auf dessen Vorschlag die übrigen Minister, leitet die wöchentlichen Kabinettssitzungen und nimmt Ernennungen für die wichtigsten Staatsämter vor.
Seine Macht wird jedoch eingeschränkt, wenn der Regierungschef aus einem anderen politischen Lager kommt und der Präsident keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Dieser Fall der „Kohabitation“ war bei der Verabschiedung der Verfassung nicht vorgesehen. Er trat aber bereits drei Mal ein, zuletzt 1997 bis 2002, als der konservative Staatschef Jacques Chirac mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin auskommen musste.
Nun ist das Lamento über einen fehlenden Resonanzraum europäischer Selbstverständigung nicht neu. Schon vor einem Jahrzehnt identifizierte der Politologe Werner Weidenfeld „abgeschottete Diskursräume und einen Filter nationaler Prägungen“. In einer Zeit aber, in der Vertreter der US-Regierung über das Ende der Europäischen Union spekulieren, wird ein transnationaler Austausch der Argumente überlebenswichtig: Europa muss in einer „Welt voller Spannung und Konfrontation“, wie EU-Ratspräsident Donald Tusk warnt, mit einer Stimme sprechen.
Wird der wachsende Druck von außen den Europäern helfen? Gelingt es endlich, das „bisher von den politischen Eliten hinter verschlossenen Türen betriebene Projekt“ zum Thema der Marktplätze zu machen und „auf den hemdsärmeligen Modus eines lärmend argumentierenden Meinungskampfes in der Öffentlichkeit“ umzustellen, wie es der Philosoph Jürgen Habermas schon vor Jahren gefordert hat?
Das ist Marine Le Pen
Marine Le Pen, Tochter des Politikers und FN-Gründers Jean-Marie Le Pen wurde am 5. August 1968 in Neuilly-sur-Seine geboren. Als Kind überlebte sie ein Attentat, das 1976 gegen das Wohnhaus der Familie verübt wurde. Die 46-Jährige war mit Geschäftsmann Franck Chauffroy verheiratet. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Nach der Scheidung heiratete sie den FN-Funktionär Éric Lorio. Auch diese Ehe scheiterte. Marine Le Pen studierte in Paris Jura und erhielt 1992 die Anwaltszulassung. Bis 1998 war sie als Anwältin tätig. Besonders markant ist ihre dominante und und für eine Frau sehr tiefe Stimme.
Seit Marine Le Pen den Parteivorsitz inne hat, versucht sie frischen Wind in den „Front National“ zu bringen. So hat sie sich zum Ziel gesetzt, Anspielungen auf das Dritte Reich zu vermeiden, um das Bild einer rechtsextremen Partei loszuwerden. Dazu passt auch, dass sie sich stärker auf die Alltagsprobleme der Bürger fokussiert. Die hohe Arbeitslosigkeit und steigende Preise sind nun die neuen zentralen Themen. Ihre Rezepte zur Überwindung der Krise: Heimische Investoren sollen von einer Abwanderung abgehalten werden, Franzosen sollen bei der Jobsuche bevorzugt werden und das Land aus dem Euro austreten. Feindbild ist die "wilde Globalisierung".
Von 1998 bis 2004 war Marine Le Pen Abgeordnete im Parlament der Region Nord-Pas-de-Calais. Über ihren Wahlkreis Île-de-France zog sie 2004 ins Europaparlament ein. Nach Stationen im Regionalparlament der Île-de-France wurde sie 2011 an die Parteispitze des Front National gewählt. Bei der Präsidentenwahl 2012 wurde sie nach Hollande und Sarkozy drittstärkste. Zeitweise sahen Umfrageergebnisse, die im Magazin „Le Nouvel Observateur“ erschienen sind, den Front National als stärkste französische Partei. Seit der Europawahl im Mai 2014 ist sie Abgeordnete im Europäischen Parlament.
Eine explizite Feindschaft zum Islam gehört zu den zentralen Positionen Le Pens und ihrer Partei. Eine entsprechende Äußerung in einer Wahlkampfrede im Dezember 2010 brachte Le Pen ins Visier der Staatsanwaltschaft. Sie verglich öffentliche Gebete von Muslimen mit der deutschen Nazi-Besatzung. "Sicher geschieht dies ohne Panzer und ohne Soldaten, aber trotzdem ist es eine Besatzung, und betroffen sind die Einwohner", so Le Pen.
Dagegen spricht, dass es schon in der deutsch-französischen Verständigung hakt, dem Kern des europäischen Projekts. Den beiden größten Mitgliedstaaten fehlt es „an Gemeinsamkeiten, und das fängt bei der Sprache an“, sagt Isabelle Bourgeois vom Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine: „Alle wichtigen Entscheidungsträger in Frankreich sind nicht mehr in der Lage, eine deutsche Zeitung zu lesen.“ In Deutschland lernt nur noch rund ein Viertel der Schüler Französisch, Tendenz fallend. In Frankreich hat die Zahl der Schüler, die Deutsch lernen, zuletzt zwar zugenommen, liegt aber nur bei knapp 16 Prozent. Schüleraustausch zwischen Brest und Bielefeld bedeutet heute, dass Teenager Englisch miteinander reden.
Romanisten mit rosaroter Brille
Auch Bildungsbürger und Intellektuelle interessieren sich nur noch wenig für die Kultur des Nachbarn. Die Begeisterung, mit der Sartre und Camus sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf Heidegger und Husserl bezogen haben; die intellektuelle Lust, mit der deutsche Studenten in den französischen Existenzialismus eingetaucht sind; die Spuren, die französische Denker dann von Foucault bis Baudrillard an deutschen Universitäten gezogen haben, kurz: Der binationale geistige Funkenflug ist erloschen. 2015 vergaben deutsche Verlage gerade mal 306 Lizenzen für die Übersetzung von Büchern nach Frankreich. Selbst Südkoreaner interessieren sich mehr für die Produktion deutscher Verlage. Französische Belletristik wiederum wird häufiger ins Spanische und Italienische übersetzt als ins Deutsche.