Europa Deutsche und Franzosen - in Gleichgültigkeit vereint

Zwischen den meisten Deutschen, Franzosen und anderen Europäern herrscht gepflegtes Desinteresse. Die nationalen Öffentlichkeiten kapseln sich ab. So wird das nichts mit der EU.

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Frankreich und Deutschland: Wie das Desinteresse am Nachbarn Europa gefährdet. Quelle: Getty Images

Seine Stimme ist rau und noch immer voller Leidenschaft. Vor drei Jahren hat sich Daniel Cohn-Bendit aus der Politik zurückgezogen, aber wenn der 71-Jährige über europäische Missverständnisse redet, dann kommt er in Fahrt. „Es heißt immer, Europa sei bürokratisch“, sagt Cohn-Bendit, dabei gehe es in der Frankfurter Kommunalpolitik zuweilen viel bürokratischer zu: Als er dort aktiv gewesen sei, „wurde über die Größe der Tische debattiert, die Cafés auf die Bürgersteige stellen dürfen“.

Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Cohn-Bendit in Deutschland und Frankreich Politik gemacht, erst als Studentenführer, dann als Stadtdezernent und Europaabgeordneter für die Grünen. Er weiß, wie viel Ignoranz es auf beiden Seiten des Rheins gibt, wie viel Unwissen über die Europäische Union (EU) verbreitet ist. Und er beobachtet, wie allein die Klischees über regulierungswütige Institutionen in Brüssel die Europäer zu einen vermögen.

Doch was den 500 Millionen EU-Bürgern vor allem fehlt, ist ein gemeinsamer Diskurs über die Perspektiven der Union. Debatten zur Fortentwicklung der Gemeinschaft finden auch 60 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge nicht im Esperanto einer geteilten Öffentlichkeit statt, sondern in den nationalen Idiomen der Mitgliedstaaten. Allen Städtepartnerschaften, Schüleraustauschprogrammen und anderen Formen organisierter Völkerverständigung zum Trotz wissen Europäer erstaunlich wenig voneinander. Eine europäische Öffentlichkeit – es gibt sie nicht.

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Nun ist das Lamento über einen fehlenden Resonanzraum europäischer Selbstverständigung nicht neu. Schon vor einem Jahrzehnt identifizierte der Politologe Werner Weidenfeld „abgeschottete Diskursräume und einen Filter nationaler Prägungen“. In einer Zeit aber, in der Vertreter der US-Regierung über das Ende der Europäischen Union spekulieren, wird ein transnationaler Austausch der Argumente überlebenswichtig: Europa muss in einer „Welt voller Spannung und Konfrontation“, wie EU-Ratspräsident Donald Tusk warnt, mit einer Stimme sprechen.

Wird der wachsende Druck von außen den Europäern helfen? Gelingt es endlich, das „bisher von den politischen Eliten hinter verschlossenen Türen betriebene Projekt“ zum Thema der Marktplätze zu machen und „auf den hemdsärmeligen Modus eines lärmend argumentierenden Meinungskampfes in der Öffentlichkeit“ umzustellen, wie es der Philosoph Jürgen Habermas schon vor Jahren gefordert hat?

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Dagegen spricht, dass es schon in der deutsch-französischen Verständigung hakt, dem Kern des europäischen Projekts. Den beiden größten Mitgliedstaaten fehlt es „an Gemeinsamkeiten, und das fängt bei der Sprache an“, sagt Isabelle Bourgeois vom Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine: „Alle wichtigen Entscheidungsträger in Frankreich sind nicht mehr in der Lage, eine deutsche Zeitung zu lesen.“ In Deutschland lernt nur noch rund ein Viertel der Schüler Französisch, Tendenz fallend. In Frankreich hat die Zahl der Schüler, die Deutsch lernen, zuletzt zwar zugenommen, liegt aber nur bei knapp 16 Prozent. Schüleraustausch zwischen Brest und Bielefeld bedeutet heute, dass Teenager Englisch miteinander reden.

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Auch Bildungsbürger und Intellektuelle interessieren sich nur noch wenig für die Kultur des Nachbarn. Die Begeisterung, mit der Sartre und Camus sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf Heidegger und Husserl bezogen haben; die intellektuelle Lust, mit der deutsche Studenten in den französischen Existenzialismus eingetaucht sind; die Spuren, die französische Denker dann von Foucault bis Baudrillard an deutschen Universitäten gezogen haben, kurz: Der binationale geistige Funkenflug ist erloschen. 2015 vergaben deutsche Verlage gerade mal 306 Lizenzen für die Übersetzung von Büchern nach Frankreich. Selbst Südkoreaner interessieren sich mehr für die Produktion deutscher Verlage. Französische Belletristik wiederum wird häufiger ins Spanische und Italienische übersetzt als ins Deutsche.

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