Nach einer sehr langen und intensiven Abwehrschlacht gegen die Vernunft hat die Europäische Zentralbank (EZB) es schließlich geschafft, sich zu überwinden, und eine Zinserhöhung um 0,25 Prozent auf 0,25 Prozent für Juli 2022 angekündigt. Es steht zu erwarten, dass weitere Zinsschritte folgen werden; die nächste Erhöhung könnte im September folgen. Darüber hinaus ist wohl geplant, dass die EZB Anleihekäufe im dritten Quartal einstellen wird. Insgesamt ist eine Straffung der Geldpolitik vorgesehen, die überfällig ist.
Angesichts von etwa 8 Prozent Inflation kann dies alles noch nicht als radikal eingestuft werden. Dennoch sind die Diskussionen im EZB-Rat, dem das Direktorium und die Präsidenten der Zentralbanken der Mitgliedsländer der Eurozone angehören, wohl sehr kontrovers verlaufen. Einige Mitglieder drängen immer noch auf schnellere und stärkere Reaktionen; sie werden gemeinhin als Falken bezeichnet. Ihnen gegenüber stehen die Tauben, die für eher permissive Geldpolitik plädieren.
Sie hatten sich bisher durchgesetzt, mussten sich aber der Evidenz beugen. Zur Erinnerung: Noch im September 2021 warnte das Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel vor zu niedriger Inflation und betrachtete die sich abzeichnende Steigerung der Inflationsrate als gute Nachricht. Diese Begeisterung hat sich mittlerweile gelegt.
Die US-amerikanische Fed ist im Übrigen wesentlich aggressiver. Dort ist die Inflation sogar noch höher als bei uns. Gleichzeitig wächst die Wirtschaft auch schneller als bei uns. Und damit kann man schon das Grundproblem der EZB erkennen, in das sie sich bereits vor einer Dekade gebracht hat, als sie den Regierungen mit der legendären Ankündigung zu tun, „whatever it takes‘, faktisch einen Freibrief ausgestellt hat, sich weiterhin großzügig zu verschulden und die Angebotsprobleme in Europa zu ignorieren, sich also konsequent den nötigen Reformen und Infrastrukturinvestitionen zu verweigern.
Heute steht die EZB vor einem Trilemma: Die Inflation ist zu hoch, das Wachstum zu niedrig und die Fähigkeit der Staatshaushalte, höhere Zinsen zu verkraften, sehr gering. Das bedeutet auch, dass eine aggressivere Geldpolitik sich negativ auf Beschäftigung und Wirtschaftswachstum auswirken wird. Hinzukommt, dass selbst die moderate Zinssteigerung auf den Anleihemärkten sichtbar wird. So stieg jüngst der sogenannte Spread, das heißt die Zinsdifferenz zwischen Deutschland und anderen Mitgliedern der Eurozone, wieder an. Dieser liegt im Falle von Italien bei etwa 200 Basispunkten; also bei 2 Prozentpunkten.
Die EZB sieht diesen Spread als nicht gerechtfertigt an und plant ein Instrument, um die Anleihemärkte so zu fragmentieren, dass die Spreads geringer werden. Ökonomisch ist das natürlich Unsinn, denn die Spreads zeigen an, dass die Märkte das Risiko für Italien höher einschätzen als für Deutschland. Damit senden sie ein wichtiges Signal aus, die Wirtschaftspolitik zu verbessern. Wird dieses Signal unterdrückt, bleiben die Verbesserungen der Politik aus – warum sollte die italienische Regierung unter diesen Bedingungen langfristig positiv wirkende, aber kurzfristig politisch riskante Maßnahmen ergreifen? Das Problem würde nur in die Zukunft transferiert und dann immer drängender.
Das damalige Versprechen von EZB-Präsident Draghi, alles Notwendige zur Rettung des Euros und zur Bekämpfung der Krisenfolgen zu tun, war vor dem Hintergrund der Erwartung an die Regierungen, die angebotspolitisch gebotenen Reformen durchzuführen, gegeben worden. Die Regierungen sollten Zeit bekommen, die sie bis heute nicht genutzt haben. Auch dieses Mal wird wieder versucht, die Geldpolitik zur Abmilderung fiskalischer Probleme zu nutzen.
Die EZB lernt offenbar nicht aus den Fehlern der Vergangenheit. Oder aber – und das wäre viel dramatischer einzuschätzen – sie kann sich nicht aus den Klauen der Finanzministerien befreien. Damit würde eine an dieser Stelle vielfach geäußerte Sorge, nämlich dass die EZB eine Zinserhöhung gegen die Finanzministerien kaum durchsetzen können wird, Realität werden. Die Geldpolitik der letzten Dekade müsste dann endgültig so interpretiert werden, dass die EZB ihre Unabhängigkeit von der Tagespolitik längst aufgegeben beziehungsweise verloren hat. Laut Europäischer Verträge ist die EZB in dem Sinne unabhängig, dass sie als wesentliches Ziel die Preisniveaustabilität verfolgt und dabei die Regierungen bei der Erreichung anderer wirtschaftspolitischer Ziele unterstützt. Die Regierungen sind ihr gegenüber nicht weisungsbefugt. Sie darf die Staatshaushalte dabei nicht finanzieren, was sie seit einer guten Dekade aber massiv tut.
Die neuesten Vorstellungen der EZB zur Reduzierung von Risikoprämien an den Anleihemärkten lassen erhebliche Zweifel daran aufkommen, dass die EZB noch in der Lage ist, ihr Mandat auszufüllen und Preisniveaustabilität in der Eurozone zu sichern. Die kommenden Monate werden sicherlich entscheidend für die langfristige Stabilität des Euro sein. Damit sind sie auch entscheidend für das Überleben der Eurozone und der gesamten Europäischen Union (EU). Anders gewendet: Schafft die EZB es nicht, die Inflation einzudämmen, gefährdet sie die europäische Integration.
In fragilen politischen Situationen wie diesen sollten sich die Akteure auf ihre Kernaufgaben besinnen. Für den italienischen Staatshaushalt ist die italienische Regierung zuständig. Für die EZB hingegen sollte also die schnellstmögliche Eindämmung der Inflation auf den Zielwert von 2 Prozent im Mittelpunkt stehen.
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