George Soros Wie sich Europa retten lässt

Seite 5/6

"Die Flüchtlingskrise könnte die Europäische Union zerstören"


Der Effekt ist kein rein kosmetischer. Die EU wurde dadurch zu einer Organisation, in der die Eurozone den inneren Kern darstellt und die übrigen Mitglieder in eine untergeordnete Position verwiesen werden. Das muss sich ändern, doch eine Änderung der Verträge wird erst in einer fernen Zukunft möglich. Die Auflösungsvorgänge halten bereits seit einem Jahrzehnt an. Es kann ein weiteres Jahrzehnt benötigen, wieder Vertrauen aufzubauen und wieder eine Bereitschaft für Zusammenarbeit aufzubauen.

Das Versäumnis, das Verhältnis zwischen der Eurozone und der Europäischen Union klarzustellen, offenbart einen gravierenderen Mangel. Es gibt die versteckte Annahme, dass sich verschiedene Mitglieder mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegen, aber alle auf das selbe Endziel zusteuern. Dies führte zur Darstellung einer „Union, die enger als je zuvor“ wäre, die jedoch nachdrücklich von einer zunehmenden Zahl der Staaten abgelehnt wird. Diese Behauptung müssen wir aufgegeben. Anstelle der Idee eines „Multi-Speed“-Europas sollten wir ein „Multi-Track-“, ein mehrspuriges Europa anstreben, das den Mitgliedsstaaten eine größere Vielfalt von Wahlmöglichkeiten erlaubt. Dies hätte weitreichende positive Auswirkungen.


Gegenwärtig sind die Einstellungen gegenüber Zusammenarbeit ablehnend: Mitgliedsstaaten wollen eher ihre Souveränität zurückerlangen, als noch mehr von ihr aufzugeben. Wenn Zusammenarbeit jedoch zu positiven Ergebnissen führt, können sich die Grundeinstellungen verbessern und einige Ziele, die derzeit am besten von Koalitionen aus Bereitwilligen verfolgt werden, können sich für eine Mitwirkung aller qualifizieren.

Es gibt drei Problembereiche, in denen ein bedeutsamer Fortschritt unverzichtbar ist. Der erste ist die Flüchtlingskrise, der zweite ist territoriale Auflösung wie beim Beispiel des Brexit; der dritte ist der Mangel einer Strategie für Wirtschaftswachstum.
Wir müssen realistisch sein. In allen drei Bereichen beginnen wir auf einem sehr niedrigen Nenner, und dennoch geht der Trend weiter abwärts. Noch immer fehlt uns eine europäische Flüchtlingspolitik. Jedes Land verfolgt nationale Interessen nach eigenem Ermessen, und das wirkt häufig den Interessen anderer Mitgliedsstaaten kontraproduktiv entgegen. Bundeskanzlerin Merkel hatte Recht: Die Flüchtlingskrise könnte die Europäische Union zerstören. Doch wir dürfen nicht aufgeben. Könnten wir bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise bedeutende Fortschritte machen, dann würde sich die Dynamik in eine positive Richtung wenden.

Ich glaube sehr an Dynamik. In meinen philosophischen Texten bezeichne sie als Reflexivität. Und ich kann sehen, wie sich eine Dynamik entwickelt, welche die Europäische Union zum Besseren verändern könnte. Dies erfordert eine Kombination aus Lösungswegen, die von oben herab und von unten nach oben initiiert werden, und ich kann sehen, wie sich beide entwickeln.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%