Die erste Runde im Wettstreit um die Nachfolge des britischen Skandalpremiers Boris Johnson ist vorbei. Nach einer Reihe von Wendungen, Leaks, taktischen Manövern und einer selbst für Tory-Verhältnisse zunehmend wüsten Schlammschlacht haben die konservativen Abgeordneten am Mittwoch entschieden, welche zwei Kandidaten sie in die Endrunde schicken werden.
Letzten Endes sind es genau jene Kandidaten geworden, die seit Monaten als Favoriten gehandelt werden: Ex-Schatzkanzler Rishi Sunak und Außenministerin Liz Truss.
In den kommenden Wochen werden die geschätzt 160.000 bis 200.000 Parteimitglieder (die Tories halten ihre genauen Mitgliederzahlen geheim) entscheiden, wer Johnson auf dem Posten des Parteichefs und Premierministers nachfolgen wird. Und diese Basis ist überwiegend im vorgerückten Alter, männlich, weiß, gut situiert, extrem konservativ – und zutiefst EU-kritisch eingestellt. Besonders repräsentativ für die britische Gesellschaft ist die Abstimmung also nicht.
Außenministerin Truss hat derzeit die besten Chancen, das Rennen zu gewinnen. Rishi Sunak wurde lange als haushoher Favorit angesehen, galt er doch wegen seiner großzügigen Covid-Hilfen lange als der mit Abstand beliebteste Politiker des Landes. Doch in den vergangenen Wochen ist er im öffentlichen Ansehen stark abgestürzt. Im April war bekannt geworden, dass Sunaks Frau Akshata Murthy, Tochter eines indischen IT-Milliardärs, einen umstrittenen Steuerstatus besaß, der es ihr erlaubte, in Großbritannien keine Steuern auf Einkommen aus dem Ausland zu zahlen. Die BBC schätzte, dass sie damit mehr als zwei Millionen Pfund an britischen Steuern im Jahr vermieden hat. Der Vorfall sorgte für einen wohlverdienten Aufschrei. Murthy gab sich reuig und erklärte, sie werde in Zukunft auch ihr Einkommen im Ausland in Großbritannien versteuern. Ein wütender Sunak leitete eine Untersuchung ein, die klären sollte, wie Informationen über den Steuerstatus seiner Frau an die Öffentlichkeit gelangen konnten.
Etwa zur selben Zeit war bekannt geworden, dass Sunak selbst dann noch eine amerikanische Arbeitserlaubnis (Green Card) besaß, die ihn als in den USA ansässig auswies, als er bereits mehr als ein Jahr lang Schatzkanzler war. Ein gravierender Fauxpas.
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Was Sunaks etwaigen Siegeszug in Richtung Downing Street Nummer 10 endgültig zerschießen könnte, ist der Umstand, dass er mit seinem Rücktritt vom Posten des Schatzkanzlers Johnsons Sturz eingeleitet hat. Als er wenig Tage später ein hochprofessionelles Video von sich präsentierte, mit dem er sich um Johnsons Nachfolge bewarb, war klar: Sunak hat seinen Griff nach der Macht von langer Hand vorbereitet.
Boris Johnsons Amtssitz in der Downing Street begann, negative Statements über den Ex-Schatzkanzler herauszugeben. Die Johnson-nahe rechte Presse stellte Sunak gar als „Verräter“ dar und setzte eine regelrechte Hetzkampagne in Gang. Diese Angriffe dürfte in den kommenden Wochen zunehmen.
Truss ist die Kontinuitätskandidatin zu Johnson
Die 46-jährige Truss, von der man ebenfalls schon lange wusste, dass sie auf den Posten des Premiers schielt, agierte besonnener. Sie pries die angeblichen Verdienste Johnsons an (die Tory-Basis schätzt Loyalität). Und sie ließ sich auffällig lange Zeit, bis sie ihre Kandidatur bekannt gab. Seitdem präsentiert sie sich als Kontinuitätskandidatin zu Boris Johnsons und verspricht, seinen politischen Kurs fortzuführen, und das vor allem beim Brexit.
Das dürfte bei der euroskeptischen Basis, bei der rechten Flanke unter den Tory-Abgeordneten, bei den rechten Revolverblättern und bei den schwerreichen Parteispendern gut ankommen. Kulturministerin Nadine Dorries hat in einem unbedarften Moment kürzlich öffentlich gemacht, wie groß der Einfluss dieser Spender auf die Tory-Partei mittlerweile ist.
Die Skandal-Chronik von Boris Johnson und seiner Regierung
28. April: Die britische Wahlkommission leitet eine förmliche Untersuchung der Finanzierung der Renovierung von Johnsons Wohnung in der Downing Street ein und begründet dies mit dem Verdacht, dass eine Straftat begangen worden sein könnte.
26. Oktober: Dem konservativen Abgeordnete Owen Paterson aus dem ländlichen North Shropshire droht eine 30-tägige Suspendierung. Das Komitee zur Wahrung der Standards kommt zu dem Schluss, dass Paterson sich für Lobby-Arbeit hat bezahlen lassen und damit die Statuten missachtet hat.
3. November: Die Regierung stimmt für eine Aufweichung der Regeln des Parlaments im Kampf gegen Korruption. Das könnte einen Abgang von Paterson verhindern. Der Vorstoß löst jedoch eine Debatte über Integrität unter der Führung Johnsons aus. Die Opposition wirft den Konservativen Korruption vor.
4. November: Nach massiven Unmut in der eigenen Partei lässt die Regierung ihre Pläne zur Änderung der Statuten fallen. Der konservative Abgeordnete Owen Paterson tritt zurück, womit eine Nachwahl in seinem Wahlkreis in North Shropshire nötig wird.
22. November: Bei einer Rede verheddert sich Johnson in seinem Manuskript. Stattdessen erzählt er von seinem jüngsten Besuch in einem Themenpark für Kinder. Er ist an die erfolgreiche Zeichentrick-Serie Peppa Pig (deutsch: Peppa Wutz) über ein Schweinemädchen angelehnt. Den anwesenden Wirtschaftsvertretern erzählt er, dass alle so wie er am Vortag dem Park einen Besuch abstatten sollten.
Und weiter: „Ich fand es toll. Peppa Pig World ist nach meinem Geschmack: Es gibt sichere Straßen und Disziplin an den Schulen.“ Seine Führung gerät erneut in die Kritik. Nachfragen von Reportern tut er ab: „Ich glaube, die Menschen haben die meisten meiner Botschaften verstanden. Das lief sehr gut.“
30. November: Die Zeitung „The Mirror“ berichtet über eine Weihnachtsfeier im Dezember 2020 - der erste solche Bericht über Zusammenkünfte während des ersten Lockdowns in Regierungsbüros und Johnsons Büro am Amtssitz Downing Street. Zu der Zeit waren in England Kontakte stark eingeschränkt.
7. Dezember: ITV veröffentlicht ein Video, in dem Mitarbeiter eine Pressekonferenz nachstellen und sich darüber lustig machen, wie sie eine Zusammenkunft in Downing Street erklären sollen. Nur Stunden zuvor hatte Johnson vor Reportern erklärt, dass er sehr zufrieden sei, dass keine Corona-Beschränkungen missachtet wurden.
8. Dezember: Johnson entschuldigt sich für ein Video in dem Mitarbeiter eine Pressekonferenz nachstellen und sich darüber lustig machen, wie sie eine Zusammenkunft in Downing Street erklären sollen. Er erklärt, es mache ihn wütend. Seine Sprecherin und Beraterin, Allegra Stratton, die selbst in dem Video zu sehen ist, tritt zurück.
9. Dezember: Die Konservative Partei wird von der Wahlaufsicht zu einer Strafe von 17.800 Pfund (umgerechnet rund 21.000 Euro) verdonnert. Der Partei wird vorgeworden, eine Spende nicht ordnungsgemäß angegeben zu haben, mit deren Hilfe die Renovierung des Dienstsitzes Downing Street finanziert wurde. Dies warf die Frage wieder auf, wer für die Arbeiten aufgekommen ist. Medienberichten zufolge hat die Renovierung Hunderttausende Pfund gekostet.
14. Dezember: Johnson sieht sich mit einer regelrechten Revolte in den eigenen Reihen konfrontiert. Fast 100 Tory-Abgeordnete im Unterhaus stimmen gegen die von ihm geforderten neuen Regeln zur Eindämmung der Pandemie. Versuche hinter den Kulissen, die Tory-Abweichler doch noch auf Kurs zu bringen, scheitern. Die Schlappe schürt Zweifel an Johnsons Stellung in der Partei.
17. Dezember: Der Chef der laufenden Regierungsermittlungen zu möglichen Corona-Verstößen bei unzulässigen Weihnachtsfeiern, Simon Case, tritt zurück. Case habe sich zurückgezogen, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Untersuchung zu bewahren, teilt das Büro von Johnson mit. Case, der höchste britische Beamte, war selbst in die Kritik geraten, nachdem britische Medien berichtet hatten, dass es in seiner Abteilung im Dezember 2020 Zusammenkünfte gegeben haben soll.
18. Dezember: Der britische Brexit-Minister David Frost tritt mit sofortiger Wirkung zurück. Als Grund gibt er Sorgen um den Kurs der Regierung an. Laut der Zeitung „Mail on Sunday“ war Frost über Johnsons politische Entscheidungen frustriert, darunter auch die Corona-Beschränkungen.
19. Dezember: Die Tageszeitung „The Guardian“ veröffentlicht ein Foto von Johnson und mehr als ein Dutzend weiterer Personen beim Weintrinken im Garten von Downing Street. Das Foto soll am 15. Mai 2020 entstanden sein – also ebenfalls während des ersten Lockdowns. Auf dem Foto ist Johnson an einem Tisch auf der Terrasse sitzend zu sehen, vor sich ein Glas Wein. Neben ihm sitzt seine Lebensgefährtin Carrie mit dem gemeinsamen, neugeborenen Sohn im Arm.
10. Januar: Der Sender ITV veröffentlicht eine E-Mail von Johnsons Privatsekretär, in der er für den 20. Mai 2020 über 100 Mitarbeiter zu einer Gartenparty am Amtssitz Downing Street 10 einlädt. Den Alkohol möge jeder selbst mitbringen. Dem Sender zufolge waren Johnson und seine damalige Lebensgefährtin und jetzige Ehefrau Carrie unter den etwa 40 Gästen.
12. Januar: Johnson räumt ein, an einer Gartenparty am 20. Mai 2020 teilgenommen zu haben. Er entschuldigt sich im Parlament. Er sei davon ausgegangen, dass es sich um eine Arbeitsbesprechung gehandelt habe. Er sei für etwa 25 Minuten dabei gewesen, um Mitarbeitern zu danken. Im Nachhinein hätte er alle wieder reinschicken sollen, sagt Johnson.
1. Juli: Konservative suspendieren den Abgeordneten Christopher Pincher, dem sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird. Zuvor hatte er seinen Rücktritt als stellvertretender parlamentarischer Geschäftsführer eingereicht.
5. Juli: Johnson entschuldigt sich im Fernsehen für seinen Umgang mit dem Fall des Konservativen Christopher Pincher, dem sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird. Zuvor hatte ein ehemaliger hochrangiger Beamter des Außenministeriums Johnsons Büro vorgeworfen, gelogen zu haben mit der Behauptung, der Premier habe von Beschwerden über sexuelles Fehlverhaltens des Tory-Abgeordneten nichts gewusst.
Ebenfalls am 5. Juli: Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid treten zurück. Sie sprechen Johnson die Fähigkeit ab, eine Verwaltung zu führen, die sich an Standards hält. Auch mehrere Staatssekretäre treten zurück oder kündigen ihren Abgang an.
7. Juli: Der britische Nordirland-Minister Brandon Lewis und der Staatsminister für Sicherheit, Damian Hinds, erklären ihren Rücktritt – genau wie die erst kurz zuvor ernannte neue Bildungsministerin Michelle Donelan. Insgesamt sind damit mehr als 50 Minister und führende Regierungsmitarbeiter aus Protest gegen Johnson und die Skandale zurückgetreten.
Da dürfte ihr die Basis verzeihen, dass sich Truss als Studentin in einer Rede einmal für die Abschaffung der Monarchie eingesetzt hat. Oder dass sie damals Parteimitglied bei den Liberaldemokraten war. Oder dass sie sich vor dem EU-Referendum 2016 für einen Verbleib in der EU eingesetzt hat. Diese Haltung hat sie seitdem so gründlich ins Gegenteil verkehrt, dass sie inzwischen gelobt, Boris Johnsons theatralisch kämpferischen Kurs gegenüber Brüssel fortzusetzen. Eine nennenswerte Korrektur oder Lockerung des in vielerlei Hinsicht angeschlagenen Brexits dürfte es unter ihr in absehbarer Zeit nicht geben.
Ein besonders hohes Ansehen genießt Truss in der britischen Öffentlichkeit jedoch nicht. Ganz im Gegenteil: Seit einiger Zeit bringt Truss von sich Fotos in Umlauf, auf denen die bekennende Thatcher-Verehrerin unübersehbar bekannte Aufnahmen der Eisernen Lady nachstellt. Dafür erntet sie reichlich Gespött. Bei einer Fernsehdebatte trug Truss kürzlich eine aus der Zeit gefallen wirkende, riesige weiße Schleife. Es dauerte nicht lange, bis in den sozialen Medien Bilder auftauchten, die zeigten, dass Truss für ihrem Auftritt bis ins kleinste Detail den Aufzug nachgestellt hat, mit dem Thatcher 1979 vor die Kameras getreten war.
For the #C4LeaderDebate Liz Truss has recreated Margaret Thatcher’s appearance from her 1979 election broadcast down to the last detail pic.twitter.com/pqzJPADQsl
— Andrew Gunn 🇺🇦 (@ASGunn) July 15, 2022
Zuvor konnte man Truss schon in vielen anderen prominenten Thatcher-Posen bewundern: Etwa, wenn sie auf dem Deck eines Kriegsschiffs stand oder aus der Luke eines Panzers ragte. Bei einem Besuch in Moskau trug sie einen langen Mantel und eine Fellmütze – genau wie Thatcher 35 Jahre zuvor. Ein Bild, auf dem sie vor einem weihnachtlich dekorierten Kamin stand, garniert mit einer britischen Flagge, brachte ihr die spöttische Frage ein, ob sie sich jetzt auch noch für den Posten der Königin bewerben wolle. Darauf angesprochen, dass viele ihrer PR-Fotos Aufnahmen Margaret Thatchers ähneln, entgegnete Truss, das sei „Zufall“.
Liz Truss hat, genau wie ihr Kontrahent Rishi Sunak, in Oxford Philosophie, Politik und Wirtschaftswissenschaften studiert – wie viele andere angehende Politikerinnen und Politiker auch. Sie verweise gerne darauf, dass sie in einem „linken“ Haushalt von Thatcher-Gegnern großgeworden ist. Ihr Vater, ein Mathematikprofessor, und ihre Mutter, die Lehrerin war, nahmen Liz und ihre drei Geschwister oft zu Friedensmärschen mit. Wie so oft, wandte sich Truss politisch von ihren Eltern ab und landete letzten Ende bei den Tories.
Seitdem wird Truss nicht müde, ihren Bewunderung für die Eisernen Lady zu unterstreichen. So bekennt sie sich häufig zu den libertären Grundfesten des Thatcherismus. Ihre Reden sind gespickt mit Appellen an den Freihandel und von Freiheitsmotiven. Das klappt mal besser, mal schlechter. 2014 floppte sie mit einer bizarren Rede vor dem Tory-Parteitag, in der erklärte: „Wir importieren zwei Drittel unseres Käses. (Dramatische, viel zu lange Pause.) Das ist eine Schande!“ Wütender Gesichtsausdruck. Anschließend sagte Truss, sie werde bald nach Peking fahren, um „Märkte für Schweinefleisch“ zu eröffnen. „Pork markets“. Breitestes Grinsen. Man kann auf Aufnahmen bis heute spüren, wie viel Unbehagen sie mit ihren ungelenken Auftritt im Raum ausgelöst haben muss.
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