Neue EZB-Chefin Lagardes erster Zug aus der Zwickmühle

Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank. Quelle: REUTERS

Die neue Präsidentin der Europäischen Zentralbank ist um einen Neustart für die gescholtene und zerstrittene Institution bemüht. Bei einer Bankentagung gibt sie erste Einblicke in ihre Strategie.

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Gerade einmal drei Wochen ist Christine Lagarde Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), schon steckt sie in einer Zwickmühle. Im Finanzstabilitätsbericht diagnostizieren die hauseigenen Ökonomen, dass die anhaltend lockere Geldpolitik Risiken für die Finanzstabilität mit sich bringt – etwa, indem große, konservative Anleger wie Pensionsfonds wegen der erodierenden Zinserträge in riskantere Wertpapiere ausweichen.

Die EZB, so sehen es Kritiker, beschwört nun die Geister, die sie selbst hervorgerufen hat. Christine Lagarde muss ein Null- und Negativzinsregime fortsetzen, das ihr Vorgänger Mario Draghi auf unabsehbare Zeit festgezurrt hat. Und das gerade hierzulande auf immer erbitterteren Widerstand stößt. 

Umso aufmerksamer hörten Analysten, Banker und Beobachter am Freitag zu. Die Alte Oper in Frankfurt, eine Bankentagung mit den führenden Köpfen der Branche, auf dem Podium, in weißer Bluse und braunem Zweiteiler gekleidet, mit Ohrringen und Halskette geschmückt: Christine Lagarde. Ihre erste programmatische Rede als EZB-Chefin.

„Substantielles“ zur Geldpolitik, schickte Lagarde voran, habe sie noch nicht zu bieten. Offensichtlich will sie den Beratungen mit den nationalen Notenbankern im EZB-Rat nicht vorgreifen. Erst in den letzten zehn Minuten ihrer knapp 24 Minuten langen Rede ging sie kursorisch auf die Geldpolitik ein. Ihr konkretestes Zugeständnis: Die EZB werde „in naher Zukunft“ beginnen, ihre Strategie zu überprüfen.

Eine solche Revision hat es innerhalb der EZB seit 16 Jahren nicht gegeben. Dabei eruiert die Notenbank sämtliche Ziele und Instrumente ihrer Geldpolitik. Der Schritt ist geboten. Schließlich hat sich die Europäische Zentralbank über Jahre mit immer neuen Zinssenkungen und unkonventionellen Instrumenten wie Anleihekäufen verausgabt, um ihr primäres Ziel zu erreichen: eine Inflation von nahe, aber unter zwei Prozent.

Trotzdem liegen die langfristigen Inflationserwartungen mit 1,4 Prozent deutlich darunter. Die Instrumente der EZB nutzen sich ab. Und „die Nebenwirkungen der Geldpolitik werden immer offensichtlicher, das müssen wir berücksichtigen“ – sagte nicht Lagarde, sondern ihr Vizepräsident Luis de Guindos. So ordnete der Spanier den EZB-Bericht zur Finanzstabilität ein.

Wird die EZB unter Lagarde künftig womöglich eine niedrigere Teuerungsrate akzeptieren?

Frederik Ducrozet, langjähriger EZB-Beobachter des Schweizer Vermögensverwalters Pictet, hält das für ausgeschlossen: „Ihr Inflationsziel wird die EZB keinesfalls aufgeben.“ Mit schnellen Ergebnissen ist ohnehin nicht zu rechnen, selbst wenn der EZB-Rat bei seiner nächsten Sitzung am 12. Dezember den Prozess formell einleitet. Beobachter rechnen damit, dass er mindesten ein Jahr beanspruchen wird.

Schnellere Erfolge erhofft Lagarde sich wohl von einem Appell, den sie von ihrem Vorgänger Draghi aufgegriffen hat. Ducrozet erwartet: „Sie wird noch mehr daransetzen, die Regierungen davon zu überzeugen, dass die EZB mehr Hilfe benötigt.“ Auf dem Bankenkongress in Frankfurt klang das aus Lagardes Mund so: „Die Geldpolitik könnte ihre Ziele schneller und mit geringeren Nebenwirkungen erreichen, wenn andere Bereiche der Politik das Wachstum ebenfalls stärker unterstützen.“

Explizit forderte Lagarde die Regierungen der Eurostaaten auf, mehr zu investieren, um die Nachfrage im Euroraum anzukurbeln. Nach Berechnungen des Pictet-Ökonomen Ducrozet hat Deutschland den mit Abstand größten Spielraum, selbst ohne exzessive Neuverschuldung die Staatsausgaben zu erhöhen. Die Bundesregierung beharrt jedoch mit Verweis auf die Schuldenbremse im Grundgesetz auf Ausgabendisziplin. Unter Lagarde dürfte sich diese Kontroverse verschärfen.

Ähnliches zeichnet sich angesichts von Lagardes implizitem Plädoyer für eine EU-weite Einlagensicherung ab. In Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) hat Lagarde hier neuerdings einen Verbündeten. Doch vom Koalitionspartner CDU/CSU kommt Widerstand. Um die heimische Nachfrage zu stärken, so Lagarde, sei es notwendig, Regeln auf dem Kapitalmarkt zu vereinheitlichen. Ähnliches gelte für den digitalen Binnenmarkt und für Dienstleistungen. Lagardes Mantra: Gemeinsame Antworten für gemeinsame Probleme. Scholz sekundierte am Nachmittag auf der Bankentagung: „Hätten wir eine Bankenunion, hätten wir mehr Wachstum.“



Viel Arbeit liegt auch innerhalb der eigenen Institution vor der Französin. Ihr Vorgänger Mario Draghi hatte den EZB-Rat mit dem finalen geldpolitischen Paket seiner Amtszeit im September gespalten. Immer wieder hat Lagarde in den ersten Wochen ihrer Amtszeit ihr Bestreben nach Geschlossenheit im EZB-Rat kundgetan. Vorige Woche zog sie die Mitglieder des EZB-Rats im Schlosshotel Kronberg unweit von Frankfurt zusammen. Ein ungewöhnlicher Schritt für einen Neustart in informeller Atmosphäre.

Seit dem 1. November kauft die Notenbank wieder Staatsanleihen im Umfang von 20 Milliarden Euro monatlich zu. Das macht der Industrieländervereinigung OECD Sorgen. Es könne die Pein der Banken verschärfen, wenn diese die zusätzliche Liquidität nicht in Form von Krediten weiterreichen, sondern bei den Notenbanken im Euroraum parken. Dafür berechnet die EZB ihnen seit September einen Einlagezins von minus 0,5 Prozent.

Die Bundesbank mahnt in ihrem Finanzstabilitätsbericht, Banken würden zunehmend riskantere Kredite vergeben. Auch das gefährde die Finanzstabilität, wenn die Konjunktur weiter abflaut. Nebenwirkungen der lockeren Geldpolitik behalte man stets im Blick, sagte Lagarde, ohne ins Detail zu gehen.

„Ein simples Zugeständnis an die Falken“

Zu welchen Schlüssen könnte die EZB in ihrer Strategieüberprüfung also kommen, wenn ihr Inflationsziel sakrosankt ist? Sie könnte zum Beispiel Kosten für Miete und Wohneigentum stärker in der Inflationsmessung berücksichtigen – so, wie es die amerikanische Notenbank tut.

Die Vorteile: „Es wäre ein simples Zugeständnis an die Falken“, sagt Pictet-Ökonom Ducrozet – und meint damit ein Zugeständnis an die Anhänger einer restriktiveren Geldpolitik. Außerdem mögen sich die Folgen der extrem niedrigen Zinsen kaum in den Preisen für Artikel des täglichen Konsums zeigen – wohl aber am Miet- und Immobilienmarkt.

Das zu berücksichtigen, wäre nicht nur für die Stabilität des Finanzsystems wichtig. Es würde auch die Lebensrealität vieler Menschen abbilden. Und damit auch Lagardes erklärtem Willen dienen, ihnen die Geldpolitik besser verständlich zu machen.

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