Armin Laschet, Sonderbeauftragter der Bundesregierung zur rheinisch-kalmierenden Bewirtschaftung der deutschen Gemütslage und zur exegetischen Talkshow-Begleitung kanzleramtlicher Volten in der Flüchtlings- und Migrationspolitik (SBrkBdGeTBkVFM), hat das wirklich noch vor ein paar Tagen zu Angela Merkel gesagt, beim NRW-Sommerfest in Berlin: „Wir wollen weiter offene Grenzen haben. Wenn Sie dafür kämpfen, haben Sie unsere Unterstützung.“ Und auch die Kanzlerin selbst hat es bei einem Besuch in Jordanien vergangene Woche allen Ernstes noch einmal bekräftigt: „Wir müssen ein offenes Land sein.“
Heute, an Tag eins nach einem Gipfel in Brüssel, auf dem die Staats- und Regierungschefs der EU die Festung Europa beschlossen haben, die Verteidigung des Kontinents gegen „illegale Migration“ und die fakultative Vorverlegung der Außengrenzen ins Exterritoriale, nach Libyen, Marokko, Tunesien oder Albanien – heute, nach drei Jahren rettungslos vermurkster Migrationspolitik, fällt es unendlich schwer, Politikern wie Merkel und Laschet noch Reste von Redlichkeit zuzusprechen, weil man nicht weiß, ob man ihr Eintreten für „offenen Grenzen“ frech-naiv oder doch schon zynisch nennen soll.
Frech-naiv wären Merkel und Laschet, wenn sie ihre „Offenheit“ allein auf ein Deutschland bezögen, das nur Binnengrenzen mit europäischen Ländern kennt. Erstens wünscht sich auch die CSU selbstverständlich keine Schlagbäume zurück; insofern ist die Rede von einem offenen Land eine leere Bekräftigung, gewissermaßen eine Schengen-Tautologie ohne normativpolitischen Sinn. Und zweitens steht der selbst-kongratulatorische Satz – „Wir müssen ein offenes Land sein“ – einem Politiker in Rom, Madrid und Athen schlicht nicht zur Verfügung, weil Italien, Spanien und Griechenland auch beziehungsweise ausschließlich EU-Außengrenzen kennen.
Die EU-Gipfelbeschlüsse zur Migration
Ausdrücklich wird betont, dass das Migrationsthema nur gemeinsam in der EU gelöst werden kann. Der „unkontrollierte Zustrom“ des Jahres 2015 soll sich nicht wiederholen und die illegale Migration auf allen Routen soll bekämpft werden.
Vor allem auf Drängen Italiens und Frankreichs wurde beschlossen, dass in der EU ankommende Flüchtlinge und Migranten in geschlossenen Zentren untergebracht werden sollen. Ähnlich wie bei den in Deutschland angedachten Ankerzentren sollen in den EU-Staaten mit Außengrenzen dort die Asylanträge geprüft werden, um zu entscheiden, wer in der EU bleiben darf und wer sie wieder verlassen muss. Die Einrichtung solcher Zentren ist freiwillig, was sie in Italien mit seiner rechtsgerichteter Regierung wahrscheinlich macht, ohne etwa Spanien zu zwingen, sie ebenfalls einzurichten. Zudem wird EU-Unterstützung für diese Zentren zugesagt.
Weiter offen bleibt die von Italien wie auch von Deutschland eingeforderte Verteilung schutzbedürftigter Flüchtlingen auf andere EU-Staaten. Erneut gelang es nur, in allgemeiner Form „Solidarität“ einzufordern, was vor allem am Widerstand der osteuropäischen Staaten dagegen liegt.
Geprüft werden sollen zudem Auffanglager für Migranten in Drittstaaten, etwa Nordafrika. In der EU-Sprache werden diese „regionale Anlandungszentren“ genannt, die in enger Zusammenarbeit mit Drittstaaten sowie dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der Internationalen Migrations-Organisation (IOM) funktionieren sollen. Dort sollen Schutzersuchen „unter Wahrung internationalen Rechts“ geprüft werden. Dadurch erhofft man sich eine abschreckende Wirkung auf Migranten, weil sie vor der EU abgefangen werden sollen. Umstritten ist, ob diese Vorentscheidungen den Anspruch auf Asyl in der EU faktisch unterlaufen.
Der EU-Gipfel gibt die zweite Tranche für die Umsetzung des EU-Türkei-Migrationsabkommen frei, so dass die Türkei mit der Zahlung von weiteren drei Milliarden Euro in den kommenden Jahren rechnen kann. Das Geld fließt nicht an die Regierung, sondern direkt in Projekte zur Betreuung und Versorgung von Millionen syrischer Flüchtlinge, die das Land aufgenommen hat.
Die EU stockt die Hilfe für afrikanische Länder auf. Dafür sind 500 Millionen Euro vorgesehen. Generell wird die Notwendigkeit betont, mit den afrikanischen Ländern enger zusammenzuarbeiten, um Fluchtursachen zu bekämpfen.
Die EU-Staaten bekennen sich zu einer weiteren Stärkung der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Zwar taucht das von Kanzlerin Angela Merkel genannte Zieldatum von 2020 nicht in der Schlusserklärung auf. Aber die EU-Staaten sagen mehr Geld und erweiterte Mandate für einen effektiven Außengrenzschutz zu.
Die CSU schielt vor allem auf den Paragrafen 11 der Abschlusserklärung, in dem die sogenannte Sekundärmigration angesprochen wird. Damit ist die Wanderung von Flüchtlingen und Migranten gemeint, die in einem EU-Außenstaat registriert werden, aber dann etwa in Deutschland Asyl beantragen. Zwar regelt bereits das Dublin-III-Abkommen, dass Asylverfahren im Prinzip in den Registrierländern durchgeführt werden müssen, aber der Prozess ist langwierig und scheitert in vielen Fällen. Deutschland hat in den ersten vier Monaten 2018 bereits mehr als 3500 solcher Personen zurückgeschickt. Nun sagen alle 28 Regierungen zu, die nötigen administrativen und gesetzlichen Vorkehrungen zu schaffen, um diese Binnenmigration in der EU zu stoppen. Dies würde vor allem Deutschland entlasten.
Zynisch wären Merkel und Laschet, wenn sie ihre „Offenheit“ noch einen Tag länger europa- und globalpolitisch für sich in Anspruch nähmen – so wie sie es seit einem Jahr besonders gern in selbstschmeichelnder Absicht und Abgrenzung zu US-Präsident Donald Trump tun. „Offenheit wird uns mehr Sicherheit bringen als Abschottung“, hat Angela Merkel noch im November 2016 im Bundestag gesagt, in ihrer erste Rede als erneute Kanzlerkandidatin der Union – und phrasenmäherhaft dafür geworben, für Werte „die wir für richtig und wichtig halten“ international einzutreten.
Nun, gestern hat sie sich in Brüssel nicht nur selbst widersprochen, sondern auch die Weltoffenheit Europas faktisch abgeschafft. Die Aufrüstung der „Grenzschutzagentur“ Frontex bis 2020; die Behinderung der Seenotrettung durch Nichtregierungsorganisationen; die Umwidmung von Entwicklungshilfe in Flüchtlingsstromsverhinderungsprämien; die Pläne zur Einrichtung von Lagern in der EU benachbarten Drittstaaten; die Internierung von Geflüchteten und Migranten in zentralen Auffanglagern; die finanzielle Belohnung der Erdogan-Türkei für ihre grenzpolitische Arbeit im Auftrag der EU – keine Frage: Europa will nicht mehr gut erscheinen und attraktiv sein, sondern böse und abschreckend wirken. Europa zeigt kein Gesicht mehr für die Armen der Welt, sondern seine hässliche Fratze. Es setzt auf Abschottung und Ausgrenzung, nicht aus Gründen der Sicherheit, sondern aus bloßer Opportunität und aus Angst vor tagesaktueller Machterosion, nicht weil die „Grenzen der Belastbarkeit“ erreicht wären, sondern weil das Ressentiment der Populisten sich wie ein Virus verbreitet hat und der Chauvinismus wieder blüht in Europa.