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Krise? Welche Krise?

Nach fünf Jahren glücklich vorbei? Oder nur schnöde beiseite geschoben? Wir haben uns in der Krise eingerichtet, machen weiter, immer weiter. Warum bloß stellt keiner die Systemfrage? (Teil 2)

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Krise - welche Krise? Quelle: dpa

Vergangene Woche haben wir die Krise des finanzmarktliberalen Staatsschuldenkapitalismus skizziert und die verhängnisvolle Abhängigkeit, mit der "Staat" und "Markt" aufeinander bezogen sind bei der Aufrechterhaltung unserer Wohlstand- und Wachstumsillusion. Um aber zu verstehen, dass wir Gefangene der Krise sind, die wir angeblich bekämpfen, solange wir die Frage ihrer Lösung nicht als Systemfrage begreifen, müssen wir verstehen, welchen Gesetzen der Kapitalismus unterliegt, was überhaupt (heute) Geld ist und welcher Logik die Märkte folgen. Die Antworten auf alle nachgeordneten Fragen ergeben sich dann praktisch von allein. Zunächst also: Auf welchen Gesetzen fußt der Kapitalismus?

Kurz gesagt, es sind deren drei: Beschleunigung, Wachstum und Instabilität. Niemand hat das früher und besser verstanden als Benjamin Franklin (1706 – 1790), das amerikanische Universalgenie. Geld, so Franklin, will im Kapitalismus angelegt sein und investiert werden, es will „arbeiten“ und sich vermehren; es ist, eingesetzt oder nicht, verwendet oder verschwendet, nie das, was es ist, sondern immer sein mögliches Mehr: Produkt, Potenz und Projekt seiner selbst, bewegende und bewegte Substanz, zugleich Modus, Motor und Ziel des kapitalistischen Wirtschaftens: „Geld kann Geld erzeugen und die Sprösslinge können noch mehr erzeugen und so fort.“ Eben deshalb, wegen seiner „zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur“, weil es immer mehr Geld in sich trägt, als es repräsentiert, beschert das Kapital seinen Besitzern brennende Unruhe und ewigen Zeitmangel: „Time is money“. Kapitalistisches Geld, so Franklin, ist eine kalkulierbare Summe und zugleich ihr berechnetes Plus – Produktivkapital eben, das sich bei denen, die es einsetzen, nur deshalb häuft und mehrt, um als Aufgehäuftes und Vermehrtes möglichst schnell wieder eingesetzt, aufgehäuft und vermehrt zu werden. Kurzum, ein Kapitalist hat es immer mit mobilisiertem Geld, mit seiner Anreicherung und mit seiner Wiederaufbereitung tun: mit Recycling-Geld, das mit jeder Runde, die es durch den Produktionsprozess dreht, aufgewertet wird.

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Es ist daher kaum verwunderlich, dass ein Kapitalist in der ständigen Angst lebt, das Geld könnte als Ausgegebenes, Gespartes oder Gehortetes sinnlos verschwendet oder vom Staat im Wege von Steuern und Abgaben um seine Fortpflanzungsfähigkeit gebracht werden. „Wer ein Fünfschillingstück umbringt“, so Franklin, „mordet alles, was damit hätte produziert werden können: ganze Kolonnen von Pfunden Sterling.“ Die so populäre Formel von der Wirtschaft, die dem Menschen zu dienen habe und nicht der Mensch der Wirtschaft, ist deshalb eine zwar hübsche, aber höchst irreführende Floskel sozial bewegter Rhetoren: Der Kapitalismus kennt keine innere Ethik, keine Sozialpflichtigkeit, im Gegenteil: Kapitalistisches Wirtschaften bedeutet per definitionem, dass Geld sich nicht (als neutrales Tauschmittel) um Güter und Menschen dreht, eher schon, dass Güter und Menschen sich um das Kapital drehen.

Vor allem aber bedeutet kapitalistisches Wirtschaften, dass sich alle gemeinsam, das Geld, die Güter und der Produktionsfaktor Mensch, mit- und umeinander drehen – und zwar möglichst schnell. Um nichts als des investierten, „arbeitenden“ und zu vermehrenden Geldes willen, müssen die Produktivität der Arbeit gesteigert, die Produktzyklen verkürzt und die Fließbänder beschleunigt werden – und umgekehrt: um nichts als laufend optimierter Waren und Güter willen, muss das kapitalistische Geld investiert, bearbeitet, vermehrt und erneut investiert werden.

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Kapitalistisches Geld produziert also nicht nur laufend mehr Geld und Güter, sondern gleichsam mitlaufend den Sachzwang, sich und die Güter im Dauermodus der Vermehrung und Beschleunigung zu bearbeiten, also immer mehr Geld und Güter produzieren zu müssen. Anders gesagt: Das kapitalistische Geld treibt die Welt vor sich selbst her, hält sie ständig in Bewegung – und untergräbt ihre Stabilität. Der Ökonom Joseph Schumpeter (1883 – 1950) hat die Marktharmonielehre und das Gleichgewichtsdenken der Klassiker (die „unsichtbare Hand“) daher schon vor mehr als 100 Jahren auf den Müllhaufen der Theoriegeschichte geworfen.

Er verstand den Kapitalismus als evolutionäre Entwicklung ohne Endpunkt und Fortschritt ohne Ziel. Stabilisierter Kapitalismus, so Schumpeter, sei ein Widerspruch in sich. Sein Tempus sei nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft. Seine Modi seien nicht Kreislauf und Wiederkehr, sondern Expansion und Wandel. Und um den Prozess der „kreativen Zerstörung“ zu beschleunigen, sei sein Geld am besten auch nicht akkumuliertes Vermögen (Kapital), sondern geschöpftes Versprechen (Kredit).

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Womit wir bei der zweiten Frage wären: Was ist heute Geld? Nun – Geld ist heute vor allem magisch und stofflos und grenzenlos herstellbar. Man kann es drucken, buchstäblich aus dem Nichts heraus, destilliert aus der heißen Luft einer Schuldverschreibung, dank der man Kriege führen, Städte bauen, das Genom erforschen und zum Mars fliegen kann. Es ist Geld aus der Illusion von Geld, geschöpft aus der Behauptung: Dies Geld sei Geld. Der Clou dieses Als-ob-Geldes, das die Zentralbanken den Geschäftsbanken und diese ihren Kunden (Staaten, Unternehmen) zur Verfügung stellen, besteht darin, dass es sich bei ihm nicht um verliehenes Geld handelt, also vorhandenes Geld, das „tatsächlich“ in der Welt, durch Gold hinterlegt oder von Ersparnissen auf Girokonten gedeckt wäre, sondern um neues, frisches Geld, das also einerseits als Geld in der Welt ist - und andererseits eine Schuld repräsentiert.

Es ist Geld, das der Staat (und die Banken) sich selbst leihen, um die strahlende Zukunft der Menschheit mitten hinein in die Gegenwart zu zaubern - und um exakt die Progression des Sozialprodukts, der Einkommen und der Geschäftsgewinne herbeizuführen, die zur beizeitigen Begleichung der Schulden erforderlich sein werden. Anders gesagt: Die Banken sind keine Zwischenhändler, die Kreditnehmern Geld vermitteln würden, das andere überzählig haben, sondern Schuldfabriken, in denen wie am Fließband (Anti-)Geld produziert wird. Die Beträge, die die Bank-Werke verlassen, stehen einerseits zur Verfügung - und markieren andererseits eine Verbindlichkeit. 

Kredite werden nicht mehr bezahlt, sondern refinanziert

Bis zur Erfindung dieses stofflosen (Anti-)Geldes waren Kredite Wachstumsbeschleuniger und Wohlstandsmotoren. Im Unterschied zum Kapital, das die Geldquellen der Gegenwart anzapfte, ließen sie Kaufkraft aus einer imaginierten Zukunft fließen. Mit der Investition von Geld, das sie noch nicht besaß und morgen zurückzahlen würde, begrünte die Menschheit das Hier und Heute. Das ging so lange gut, wie die Emission des Geldes gedeckt war - und Darlehen nicht nur eine verheißungsvolle Zukunft versprachen, sondern auch das Versprechen der Schuldner einschlossen, die vergegenwärtigte Zukunft mit der Realisierung der Geldfiktion (der Tilgung der Schuld) beizeiten einzuholen.

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Damit aber ist es längst vorbei. Seit die Zentralbanken den Geschäftsbanken unbegrenzt viel (Anti-)Geld zur Verfügung stellen und die Geschäftsbanken immer weniger Eigenkapital vorhalten müssen, um ihrerseits frisches (Anti-)Geld zu schöpfen, dreht sich die Schuldenspirale mit beängstigender Zwangsläufigkeit ins Unendliche: Die Kredite werden nicht mehr bezahlt, sondern refinanziert. Kurzum, seither beruht die moderne Geldwirtschaft auf der infiniten Fabrikation von (Anti-)Geld und auf seiner permanenten Verzeitlichung, auf der ständigen Vermehrung ins Unendliche verlängerbarer, ewiger Schulden - und auf der zunehmend heiklen Stabilisierung dieses unerlösbaren Schuldzusammenhangs.

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Weil aber die Billionen, mit denen die Staaten ihren Banken und sich selbst zu Hilfe eilen,  keine Zukunft mehr bewirtschaften, sondern Vergangenheit, hat das moderne Kreditgeld heute nicht nur seine Funktion, sondern auch seine Legitimation eingebüßt. Jeder weiß dass das frisch geschöpfte Geld der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht mehr fruchtbar ist, weil sich an seinen Einsatz die Erwartung seiner Vermehrung knüpfen würde, sondern dass dieses Kreditgeld ans Gestern verschwendet und zeugungsunfähig ist.

Die Schulden, die wir heute machen, zaubern keine Zukunft mehr ins Heute, sondern tischen uns die verpassten Chancen der Vergangenheit auf. Das frische Geld arbeitet nicht mehr mit Blick auf sein Mehr, sondern es stottert eine Gegenwart ab, die ihre künftigen Potenziale schon  verbraucht hat. Die frischen Kredite schöpfen kein Geld, mit dem wir neue Schulen bauen könnten; sie klären uns darüber auf, dass wir in einer bereits hinter uns liegenden Gegenwart die Zukunft aufs Spiel gesetzt  - und verloren haben.

Entkopplung von der Realwirtschaft

Was uns zur dritten Frage führt, zur Funktion von modernen Finanzmärkten: Deren Aufgabe besteht nicht wie ehedem darin, der Wirtschaft als ihr Seismograf über sich selbst Auskunft zu verleihen, sondern darin, dass das Geld sich in ihnen möglichst unbegrenzt vermehren kann. Die Börsen sind längst kein Markt der Märkte mehr, in denen die Wirtschaft sich selbst den Puls fühlt, sondern eine Geldmaschine, die darauf programmiert ist, alle Verbindungsreste zur schwach wachsenden Realwirtschaft zu kappen. Die „Entkopplung“ der Finanzmärkte von der so genannten Realwirtschaft ist unbedingt gewollt, ja: zwingende Voraussetzung dafür, dass das Wohlstandsversprechen überhaupt noch einigermaßen aufrechterhalten werden kann.

Lebensversicherer, die ihren Anlegern in wachstumsreligiösen Niedrigzinsländern viereinhalb Prozent Rendite garantieren und mit Tagesgeldern und Schatzbriefen notwendig Verluste erwirtschaften würden, müssen sich mit B-Papieren mäßig beleumundeter Verschuldungsstaaten - etwa griechischen Staatsanleihen – eindecken oder aber gleich auf Kreditausfälle, Währungsschwankungen und Staatsbankrotte wetten. Gleichzeitig sind die nominell „unabhängigen“ Notenbanken zur Durchführungsagentur einer in Berlin, Paris und Brüssel abgemischten Währungsrettungspolitik verkommen: Sie sind dazu verdonnert, immer neues Geld in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen – und damit die Refinanzierbarkeit von Banken und Staaten sicherzustellen.

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Fazit: Die politisch derzeit auszuhandelnden Fragen sind marginal im Vergleich zur großen Systemfrage. Die gegebenen Antworten lösen ein aktuelles konjunkturelles Problem, aber sie eröffnen keine zukunftsweisende Perspektive. Bestenfalls verzeitlichen sie die Krise; schlimmstenfalls verschärfen sie sie. Was also tun? Kräftig kürzen und sparen, die Steuern und Einnahmen erhöhen? Wir sehen in Griechenland, was das bedeutet: Die Reichen machen sich davon, die Normalbürger bluten, soziale Unruhen drohen. Kräftig investieren, Staatsprogramme auflegen und Geld drucken? Damit lindert man die Symptome und forciert die Krankheit zugleich: die Verschuldungsspirale geht in die nächste Runde, am Ende stehen Währungsschnitt und Staatsbankrott. Eine kontrollierte Inflation versuchen, dem Geld (und damit auch den Schulden) schleichend Wert entziehen? Das mag den überschuldeten Staat sanieren, frisst aber verlässlich das Ersparte von Sparkassenkunden auf – und  bestraft damit ausgerechnet die solidesten aller Staatsbürger.

Kurzum, einen Königsweg aus der Krise gibt es nicht. Was es gibt, so oder so, ist ein bisschen Zeitgewinn und die Chance auf die Einsicht, dass der finanzmarktliberale Staatsschuldenkapitalismus restlos bankrott ist. Dass er keine Zukunft hat, weil er die Grundlagen auffrisst, auf denen er beruht. Dass der Kapitalismus, will er seine Ressourcen nicht verzehren, Geld braucht, das seinen Preis hat - und Kredite, die verantwortlich bearbeitet werden. Kurzum, die Systemfrage ist, ob wir es wollen oder nicht, zurück. Sie lautet nicht wie damals: Kapitalismus oder Sozialismus. Sondern Kapitalismus - oder Marktwirtschaft. 

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